Was kann ich als Kollegin oder Kollege tun?
Warum es wichtig, ist, psychische Erkrankungen am Arbeitsplatz zu thematisieren, darüber aufzuklären und zu sensibilisieren, zeigt unter anderem der Fehlzeiten-Report 2022 sehr eindrücklich [1]. Die darin beschriebenen Analysen basieren auf Daten zu den Arbeitsunfähigkeitsmeldungen von 14.6 Millionen erwerbstätigen Versicherten der AOK-Krankenkasse aus dem Jahr 2021: 12% der Fehlzeiten im Jahr 2021 gingen demnach auf Psychische Erkrankungen zurück, die somit den zweithäufigsten Grund (!) nach den Muskel- und Skelett-Erkrankungen (21.5%) bildeten. Während sich der Anteil an Krankheitstagen aufgrund psychischer Erkrankungen im Vergleich zum Vorjahr nicht veränderte, zeigt sich jedoch seit 2012 eine Zunahme entsprechender Krankheitstage um 53.2%. Im Jahr 2021 waren zudem mehr Arbeitsunfähigkeits-Fälle durch psychische Erkrankungen (5.2%) als durch Herz-Kreislauf-Erkrankungen (3.3%) bedingt. Ein besonders relevanter Befund ist außerdem, dass psychische Erkrankungen mit den längsten Ausfallzeiten einhergingen. Konkret: Während die Dauer der Fehlzeit im Durchschnitt 13.2 Tage betrug, dauerte sie im Falle von psychischen Erkrankungen mit 29.7 Tagen mehr als zweimal so lang an [1]. Der „Psychreport 2022“ der DAK-Krankenkasse zeichnet ein ganz ähnliches Bild ab [2].
Insgesamt verdeutlichen die berichteten Zahlen nicht nur allgemein die Notwendigkeit, psychische Erkrankungen im Arbeitskontext zu thematisieren, sie legen auch die Relevanz von und den Bedarf an geeigneten Maßnahmen am Arbeitsplatz nahe – vor allem auch im Sinne der Prävention [1].
Gleichzeitig stellt besteht seitens vieler betrieblicher Akteurinnen und Akteure eine hohe Unsicherheit und die Frage nach dem „Wie“ [3], [4]: Wie kann und sollte ich mit psychischen Erkrankungen von Kolleginnen und Kollegen, Mitarbeitenden umgehen? Was kann ich tun, wenn ich bei einer Mitarbeiterin oder einem Mitarbeiter Veränderungen bemerke, die auf eine psychische Belastung hindeuten könnten? Wie kann ich meine Kollegin, meinen Kollegen darauf ansprechen?
Erste Empfehlungen und Unterstützungsansätze
Im Gegensatz zu beispielsweise einem Beinbruch sind psychische Störungen deutlich schwerer zu greifen: Sie betreffen vor allem das Denken und Erleben einer Person, also von außen zunächst nicht sichtbare Vorgänge [4]. Für Außenstehende, etwa Kolleginnen und Kollegen, sind jedoch in der Regel Veränderungen im Verhalten oder im Auftreten einer anderen Person von außen sichtbar und können weiter beobachtet werden [4]. Eine besondere Herausforderung, die dabei im Arbeitskontext jedoch häufig zusätzlich besteht, ist laut Ina Riechert (2014) [4], dass die Beziehungen zwischen Kolleginnen und Kollegen nicht immer zwingend so vertraut sind, dass auch minimale Veränderungen schon früh wahrgenommen werden, wenngleich man aber sicherlich eine gewisse Vorstellung darüber hat, wie sich eine bestimmte Kollegin oder ein bestimmter Kollege sonst normalerweise verhält. Es ist daher insgesamt wichtig, aufmerksam zu sein und genau hinzuschauen [4].
An dieser Stelle sollte jedoch bereits betont werden, dass man als Kollegin, Kollege, Vorgesetzte, Vorgesetzter oder Führungskraft keine Diagnose stellen kann und sollte. Die Diagnostik ist Aufgabe von entsprechend ausgebildeten Fachpersonen, das heißt, von Ärzt*innen, Psycholog*innen bzw. Psychotherapeut*innen.
Für die betroffene Mitarbeiterin oder den betroffenen Mitarbeiter könnte eine „Diagnosestellung“ durch Kolleg*innen nicht zuletzt ein zusätzlich erschwerender Faktor sein, um über möglicherweise vorliegende Probleme zu sprechen beziehungsweise sich mitzuteilen [4].
Veränderungen im Verhalten erkennen und beobachten
Wenn Mitarbeitende Auffälligkeiten im Verhalten oder Auftreten einer Kollegin oder eines Kollegen wahrnehmen, so sollten sie grundsätzlich sehr aufmerksam sein und sich bei der weiteren Verhaltensbetrachtung insbesondere folgende 2 Fragen stellen [4]:
Ist die Auffälligkeit eine Veränderung des sonst üblichen Verhaltens meiner Kollegin, meines Kollegen?
Sind mir diese Veränderungen komplett unerklärbar?
Wichtig ist an dieser Stelle zudem, das Verhalten ohne eine Wertung und ohne unmittelbare Interpretationsversuche zu betrachten: Es ist zum Beispiel möglich, dass eine Kollegin, ein Kollege psychisch belastet ist, das heißt jedoch noch nicht, dass er oder sie auch unter einer psychischen Störung leidet [4].
Bei einer psychischen Störung kann es zu unterschiedlichen Änderungen im Verhalten und Auftreten einer Person kommen. Eine individuelle Betrachtungsweise ist daher nötig und sollte sich entsprechend an den oben genannten Leitfragen orientieren [4].
Mögliche Verhaltensänderungen könnten etwa darin bestehen, dass die Kollegin oder der Kollege…
…sich von den anderen Mitarbeitenden zurückzieht,
…Pausen vermehrt allein verbringt,
…wiederholt an Konflikten beteiligt ist,
…die persönliche Hygiene vernachlässigt,
…weniger leistungsfähig ist und ihr oder ihm auch bei routinierten und sonst gut bearbeiteten Aufgaben plötzlich eine hohe Anzahl an Fehlern passieren [4].
Wie kann ich als Kollegin oder Kollege das Gespräch suchen?
Werden über einen längeren Zeitraum unerklärbare Veränderungen im Verhalten und Auftreten eines Mitarbeitenden beobachtet, empfiehlt es sich, diese in einem persönlichen Gespräch mit der betreffenden Person zu schildern [4]. Dies sollte in einem geeigneten, ruhigen Moment und einer sicheren Umgebung geschehen – anstatt den Mitarbeitenden etwa während der Bearbeitung eines Arbeitsauftrags oder im Vorbeigehen auf dem Flur mit den Beobachtungen zu konfrontierten. Wenn möglich, kann man sich mit der betreffenden Kollegin oder dem betreffenden Kollegen etwa zu einem Gesprächstermin im eigenen Büro oder in einem Besprechungsraum treffen [5].
Neben der Signalisierung von Vertrauen ist es an dieser Stelle noch einmal besonders wichtig, das persönlich beobachtete Verhalten auch als solches zu beschreiben. Es geht darum, die Beobachtungen wertfrei, ohne Interpretationen und Zuschreibungen von Diagnosen zu schildern. Anstatt etwa zu sagen, „Du wirkst in der letzten Zeit so depressiv.“ oder „Sie haben sich in den letzten Wochen sehr ängstlich und zwanghaft verhalten.“, ist es ratsam, die Beobachtungen in Ich-Form mitzuteilen: „Ich habe bemerkt, dass Du seit einiger Zeit die Pausen immer allein verbringst und erschöpfter wirkst als sonst.“ oder „Mir ist aufgefallen, dass Sie seit ein paar Wochen bei solchen Aufgaben, die Sie sonst perfekt und routiniert bearbeitet haben, immer häufiger Fehler machen.“ [4].
Je nach Reaktionen, Antworten des Mitarbeitenden kann dann im weiteren gemeinsamen Gespräch gegebenenfalls nach Lösungen und Hilfestellungen gesucht werden. Hier ist zu betonen, dass Kolleg*innen, Führungskräfte oder Vorgesetzte, wie Angehörige im Allgemeinen, natürlich auch ihre persönlichen Grenzen berücksichtigen müssen. Das kann etwa bedeuten, dass man zusammen mit der betreffenden Person nach professionellen Anlauf- oder Beratungsstellen sowie Expertinnen und Experten sucht, die über das nötige Fachwissen verfügen und weiterhelfen können, oder dass man die Mitarbeiterin, den Mitarbeiter überhaupt erst einmal dazu ermutigt, professionelle Hilfe in Anspruch zu nehmen [4].
Bei Bedarf nach weiteren konkreten Empfehlungen für die Gestaltung eines solchen Gespräches können dafür konzipierte Gesprächsleitfaden sinnvoll und hilfreich sein. Ein solcher Leitfaden wird etwa von der Offensive Psychische Gesundheit, an der mehrere Bundesministerien beteiligt sind, zur Verfügung gestellt und kann auf folgender Website kostenlos heruntergeladen werden: https://www.inqa.de/DE/vernetzen/offensive-psychische-gesundheit/offen-darueber-sprechen.html [5]
Quellen
[1] Badura, B., Ducki, A., Meyer, M. & Schröder, H. (Hrsg.). (2022). Fehlzeiten-Report 2022. Verantwortung und Gesundheit (Fehlzeiten-Report, Bd. 2022). Berlin: Springer. https://doi.org/10.1007/978-3-662-65598-6
[2] DAK-Gesundheit & IGES Institut (2022, 19. Februar). Psychreport 2022. Entwicklungen der psychischen Erkrankungen im Job: 2011 - 2021. Verfügbar unter: https://www.dak.de/dak/bundesthemen/psychreport-2022-2533048.html#/
[3] Gröben, F., Freigang-Bauer, I. & Barthen, L. (2011). Betriebliches Eingliederungsmanagement von Mitarbeitern mit psychischen Störungen. Prävention und Gesundheitsförderung, 6(4), 229–237. https://doi.org/10.1007/s11553-011-0306-1
[4] Riechert, I. (2014). Psychische Störungen bei Mitarbeitern. Ein Leitfaden für Führungskräfte und Personalverantwortliche - Von der Prävention bis zur Wiedereingliederung (2. Auflage). Berlin: Springer. Verfügbar unter: http://gbv.eblib.com/patron/FullRecord.aspx?p=1966041
[5] Die Bundesregierung, Initiative Neue Qualität der Arbeit, Offensive Psychische Gesundheit. "Lass uns reden!". Gesprächsleitfaden mit praktischen Hinweisen, wie im persönlichen oder beruflichen Umfeld das Thema "psychische Belastung" niedrigschwellig angesprochen werden kann. Verfügbar unter: https://www.inqa.de/DE/vernetzen/offensive-psychische-gesundheit/offen-darueber-sprechen.html
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