Trauma - verstehen, was bleibt: Trauma, seine Folgen und Wege zur Heilung
- Inga
- 2. Juli
- 8 Min. Lesezeit

Was ist ein Trauma?
Der Begriff Trauma wird im Alltag häufig verwendet, doch seine eigentliche Bedeutung reicht weit über ein bloß „schlimmes Erlebnis“ hinaus. In der Psychotraumatologie beschreibt ein Trauma eine extreme seelische Erschütterung, die das Gefühl von Sicherheit und Kontrolle tiefgreifend beeinträchtigt. Es handelt sich um eine psychische Wunde, die durch ein als bedrohlich, überwältigend oder existenziell gefährlich empfundenes Ereignis ausgelöst wird – und die Betroffene in der Situation keine hinreichenden Bewältigungsstrategien oder Schutzmechanismen zur Verfügung haben.
Ein traumatisches Ereignis kann vielfältige Formen annehmen: Unfälle, Naturkatastrophen, Krieg, Gewalt, Missbrauch, der plötzliche Verlust eines geliebten Menschen oder auch chronische Vernachlässigung in der Kindheit. Wichtig dabei ist: Nicht jedes objektiv „schlimme“ Ereignis führt automatisch zu einem Trauma. Entscheidend ist vielmehr die individuelle Reaktion des Nervensystems auf das Ereignis.
Ein zentrales Konzept in der Traumaforschung ist die Überforderung der natürlichen Stressverarbeitung des Körpers. Wenn das autonome Nervensystem durch die Situation in einen Zustand extremer Aktivierung (Kampf- oder Fluchtmodus) oder vollständiger Erstarrung versetzt wird und dieser Zustand nicht wieder aufgelöst werden kann, entsteht eine sogenannte traumatische Speicherung der Erfahrung. Die Erlebnisse werden nicht integriert, sondern bleiben als unbewältigte Fragmente im Körpergedächtnis bestehen. Dies kann langfristige psychische und körperliche Folgen haben.
Trauma beeinflusst nicht nur das Denken und Fühlen, sondern wirkt sich auf viele Ebenen aus: auf die Selbstwahrnehmung, das Vertrauen in andere, die Beziehung zur Welt und sogar auf körperliche Prozesse wie Schlaf, Verdauung oder das Immunsystem. Menschen mit traumatischen Erfahrungen berichten häufig über Symptome wie Flashbacks, emotionale Taubheit, Reizbarkeit, Schlafstörungen oder das Gefühl, ständig in Alarmbereitschaft zu sein.
Die moderne Psychotraumatologie betont daher: Es ist nicht das Ereignis selbst, das ein Trauma definiert – sondern die Wirkung, die es auf das Nervensystem hat. Zwei Menschen können dasselbe erleben, aber völlig unterschiedlich darauf reagieren, je nach ihren persönlichen Ressourcen, ihrer Biografie und ihrem sozialen Umfeld. Traumatische Erfahrungen können verarbeitet werden – häufig mithilfe von Psychotherapie. Dabei geht es nicht nur um das „Darüber sprechen“, sondern darum, das Nervensystem schrittweise wieder zu regulieren, die Erfahrung zu integrieren und die verloren gegangene Sicherheit zurückzugewinnen.
Verschiedene Formen von Trauma
Traumata lassen sich nicht in eine starre Schublade stecken. Fachleute unterscheiden mehrere Formen:
Schocktrauma: Ein einmaliges, überwältigendes Ereignis wie ein Unfall, eine Naturkatastrophe, ein Überfall oder plötzlicher Verlust. Diese Art von Trauma ist plötzlich, massiv und oft gut abgrenzbar.
Entwicklungstrauma (auch: Bindungstrauma): Wiederholte Erfahrungen von Vernachlässigung, emotionaler Kälte, Missbrauch oder Unsicherheit in der frühen Kindheit. Diese Form wirkt besonders tiefgreifend, da sie das sich entwickelnde Gehirn und Selbstbild dauerhaft beeinflusst.
Komplexes Trauma: Länger andauernde oder wiederholte traumatische Erfahrungen, meist in Beziehungskontexten, z. B. emotionaler, körperlicher oder sexueller Missbrauch. Es kann auch strukturelle Gewalt oder Kriegserfahrung umfassen.
Sekundärtrauma / transgenerationales Trauma: Menschen können auch durch das Miterleben traumatischer Erzählungen (z. B. Therapeuten, Einsatzkräfte) oder über Generationen hinweg Traumaspuren mittragen – etwa bei Nachkommen von Holocaust-Überlebenden.
Was passiert bei einem Trauma im Gehirn?
Ein Trauma hinterlässt keine sichtbaren Narben – aber es verändert das Gehirn.
Im Akutfall wird das limbische System, insbesondere die Amygdala, alarmiert. Sie bewertet Gefahr und steuert Flucht-, Kampf- oder Erstarrungsreaktionen. Bei traumatischen Erlebnissen bleibt dieser Alarmzustand oft „stecken“.
Die Amygdala ist überaktiv – sie erkennt selbst ungefährliche Reize als bedrohlich.
Der Hippocampus, zuständig für die Einordnung von Erinnerungen in Raum und Zeit, kann unter Überlastung versagen. Die Erinnerung bleibt „roh“ und fragmentiert gespeichert.
Der präfrontale Cortex, zuständig für Rationalität, Entscheidungsfindung und Impulskontrolle, wird im Schockzustand oft gehemmt.
Das erklärt, warum sich Traumatisierte oft nicht „logisch“ verhalten können – ihr Gehirn arbeitet in einem Überlebensmodus.
Traumafolgestörungen – wenn die Seele nicht zur Ruhe kommt
Auch wenn es nicht zur Diagnose einer posttraumatischen Belastungsstörung kommt, können traumatische Erfahrungen tiefgreifende seelische und körperliche Auswirkungen haben:
Chronische Anspannung oder Erschöpfung
Schlafstörungen, Albträume
Reizbarkeit, Wutausbrüche
Konzentrationsprobleme
Gefühl der Entfremdung oder „Leere“
Körpersymptomatik ohne klare medizinische Ursache
Bindungs- und Beziehungsprobleme
Diese Symptome können sich auch Jahre nach dem auslösenden Ereignis zeigen – oft ohne, dass Betroffene den Zusammenhang erkennen.
Dissoziation – wenn die Psyche sich schützt
Dissoziation ist eine psychische Schutzfunktion. Sie tritt auf, wenn eine Situation für die betroffene Person emotional so überwältigend ist, dass das Gehirn bestimmte Wahrnehmungen oder Gefühle abspaltet. Diese Reaktion kann direkt im Moment des Traumas entstehen oder auch später ausgelöst werden – etwa durch sogenannte Trigger, also Reize, die an das ursprüngliche Erlebnis erinnern.
Menschen, die dissoziieren, beschreiben oft das Gefühl, wie in Watte gepackt zu sein oder als würde das eigene Leben aus weiter Entfernung beobachtet. Sie fühlen sich nicht im eigenen Körper, erleben innere Leere oder emotionale Taubheit. Häufig kommt es auch zu Erinnerungslücken – ganze Zeitabschnitte fehlen oder wirken wie ausgelöscht. Im Alltag zeigt sich das manchmal in einem „funktionieren wie ein Roboter“, ohne echte innere Beteiligung.
Für Angehörige ist Dissoziation oft schwer zu erkennen und noch schwerer zu verstehen. Betroffene wirken plötzlich abwesend, schauen ins Leere oder haben glasige Augen. Sie reagieren nicht auf Ansprache oder Berührung, wirken eingefroren oder sprechen monoton. Manchmal verändern sie abrupt das Thema oder verhalten sich plötzlich ganz anders – als wären sie ein anderer Mensch. Im Nachhinein erinnern sie sich oft nicht an das, was geschehen ist. Für nahestehende Personen kann das verwirrend, schmerzhaft oder sogar verletzend sein – vor allem, wenn die emotionale Verbindung in diesen Momenten scheinbar abbricht.
Flashbacks – wenn Vergangenheit zur Gegenwart wird
Ein Flashback ist ein Zustand, in dem traumatische Erfahrungen unwillkürlich wiedererlebt werden – visuell, akustisch, körperlich oder emotional. Für die betroffene Person fühlt es sich so an, als würde das Trauma erneut geschehen. Das Gehirn unterscheidet in diesem Moment nicht zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Rationales Denken, das Bewusstsein für die aktuelle Umgebung oder die Tatsache, dass man in Sicherheit ist, sind in einem Flashback kaum zugänglich. Ein Mensch in einem Flashback kann plötzlich erstarren, fliehen oder sehr heftig reagieren. Er hört nicht mehr, was man sagt, oder versteht es nicht. Was von außen irrational erscheint, ist in Wahrheit eine automatische Schutzreaktion des Nervensystems.
Trigger – kleine Auslöser, große Wirkung
Trigger sind scheinbar harmlose Reize, die mit dem ursprünglichen Trauma verknüpft sind. Sie können Erinnerungen oder Körperzustände aktivieren, die für die Betroffenen hoch belastend sind – selbst wenn objektiv keine Gefahr besteht. Oft geschieht das unbewusst.
Ein Trigger kann ein bestimmter Geruch sein, etwa Parfüm oder Desinfektionsmittel. Auch Geräusche wie das Knallen einer Tür, bestimmte Körperhaltungen, Stimmlagen oder Jahrestage und Orte können als Trigger wirken. Wenn ein Mensch getriggert wird, zeigt er häufig eine plötzliche und nach außen hin „unlogisch“ wirkende Reaktion. Innerlich fühlt er sich jedoch in diesem Moment zutiefst bedroht – als wäre er wieder mitten im traumatischen Geschehen.

Traumatherapie – Wege zur Heilung
Traumatherapie ist ein spezialisierter Bereich der Psychotherapie, der weit über klassisches „Reden über das Erlebte“ hinausgeht. Ziel ist es, das Nervensystem zu regulieren und das Trauma integrativ zu verarbeiten – ohne es erneut zu durchleben.
Bekannte therapeutische Ansätze sind:
Somatic Experiencing (SE): Fokussiert auf die körperliche Verarbeitung und Entladung von gespeicherten Stressreaktionen.
EMDR (Eye Movement Desensitization and Reprocessing): Durch Augenbewegungen oder bilaterale Stimulation wird die Verarbeitung belastender Erinnerungen unterstützt.
Traumazentrierte Psychotherapie: Kombination aus stabilisierenden, konfrontierenden und integrativen Techniken.
Polyvagal-Theorie-basierte Ansätze: Zielt auf die Regulation des autonomen Nervensystems (nach Stephen Porges).
Teilearbeit (z. B. IFS – Internal Family Systems): Arbeit mit inneren Anteilen, besonders bei frühem oder komplexem Trauma hilfreich.
Ein sicherer, stabiler therapeutischer Rahmen ist essenziell. Oft beginnt Traumatherapie nicht mit dem Trauma selbst, sondern mit Stabilisierung, Ressourcenarbeit und Körperwahrnehmung.
Was können Angehörige tun? – Verstehen statt kontrollieren
Wenn ein geliebter Mensch an Dissoziationen oder Flashbacks leidet, fühlen sich Angehörige oft hilflos. Der Impuls, „helfen zu wollen“, ist stark – doch was in diesen Momenten zählt, ist nicht Kontrolle, sondern Verständnis, Präsenz und Geduld.
1. Dissoziation erkennen und ruhig benennen – ohne Druck
Wenn dein Gegenüber plötzlich abwesend wirkt, leer schaut oder nicht reagiert, könnte das eine Dissoziation sein. In solchen Momenten hilft es, ruhig und klar zu sprechen – ohne zu überfordern. Eine einfache, wiederholte Botschaft wie „Ich bin da. Du bist gerade in Sicherheit.“ kann Orientierung geben. Vermeide schnelle Bewegungen oder unvorhersehbare Berührungen, da sie zusätzliche Trigger setzen können.
2. Erdung sanft unterstützen
Einfache Impulse zur Erdung können helfen, wieder ins Hier und Jetzt zurückzufinden. Du kannst dazu sanfte Fragen stellen wie: „Was siehst du in der Farbe Blau?“ oder „Was hörst du gerade?“ Auch sensorische Reize – wie kaltes Wasser über die Hände, ein duftendes Öl oder ein kleiner Stein in der Hand – können hilfreich sein. Unterstütze bewusstes Spüren, z. B. durch das Wahrnehmen der Füße am Boden oder das Anlehnen an eine Wand oder Lehne.
3. Es nicht persönlich nehmen
Wenn dein Angehöriger in sich zurückzieht oder scheinbar „verschwindet“, ist das kein Rückzug von dir als Person. Dissoziation ist eine unbewusste Überlebensreaktion auf innere Überforderung – kein Zeichen von Ablehnung. Es ist wichtig, das nicht zu interpretieren oder sich schuldig zu fühlen, sondern zu erkennen: Dein Gegenüber schützt sich gerade.
4. Eigene Grenzen achten – Selbstfürsorge ist essenziell
Du bist nicht verantwortlich für die Heilung deines Angehörigen. Traumaaufarbeitung braucht fachliche Begleitung durch therapeutische Fachkräfte. Was du leisten kannst, ist Unterstützung – keine Rettung. Achte auf deine eigenen Grenzen und Bedürfnisse: Suche dir gegebenenfalls Austausch, psychoedukatives Wissen oder sogar eigene Beratung, um dich zu stärken.
5. Sicherheit anbieten – nicht drängen
Sicherheit entsteht durch Verlässlichkeit, ruhige Präsenz und das Einhalten von Absprachen. Dränge dein Gegenüber nicht, über das Trauma zu sprechen – das kann retraumatisierend wirken. Sei stattdessen da, biete Hilfe an, ohne sie aufzuzwingen. Du kannst ermutigen, therapeutische Unterstützung in Anspruch zu nehmen – aber der Weg dorthin muss in der eigenen Zeit und im eigenen Tempo geschehen.
Fazit
Trauma ist kein Randphänomen. Viele Menschen leben mit Erfahrungen, die tief ins Nervensystem eingeprägt sind – Erlebnisse, die sich nicht „vergessen“ oder einfach abschütteln lassen. Und doch gibt es Hoffnung: Unser Gehirn ist plastisch, es kann sich verändern, wenn wir ihm Sicherheit, Geduld und die richtigen Bedingungen geben.
Heilung geschieht nicht über Nacht und nicht in gerader Linie. Aber mit Zeit, Verständnis und fachlicher Unterstützung können traumatische Erfahrungen integriert werden – anstatt weiter das Leben zu bestimmen. Traumatherapie eröffnet Wege zurück zu Verbindung, Lebendigkeit und Selbstwirksamkeit.
Zwei wertvolle Lektüreempfehlungen auf diesem Weg sind:
– Dr. Aylen Thiel: Trauma überwinden – ein aktuelles, leicht zugängliches Buch für Betroffene und Angehörige, das praxisnah durch die wichtigsten Etappen der Traumaverarbeitung führt.– Bessel van der Kolk: Das Trauma in dir: Wie der Körper den Schrecken festhält und wie wir heilen können– ein international anerkanntes Standardwerk zur Neurobiologie von Trauma und zur Bedeutung des Körpers im Heilungsprozess.
Diese Bücher vermitteln fundiertes Wissen – aber noch wichtiger: Sie geben Mut und Orientierung. Denn der erste Schritt zur Heilung ist oft das Verstehen.
Weiterführende Beiträge von Psytastic
Wer sich tiefergehend mit dem Thema Trauma und PTBS beschäftigen möchte, findet bei Psytastic fundierte Artikel mit anschaulichen Erklärungen und praxisnahen Impulsen:
Unsichtbare Narben: Verständnis von Traumata und PTBS- Teil 1 (Link einfügen: https://www.psytastic.de/post/verst%C3%A4ndnis-von-traumata-und-ptbs) – Psytastic erklärt präzise die Unterscheidung zwischen einmaligen (Typ I) und chronischen Traumata (Typ II) und liefert eine tiefgehende Übersicht zu Symptomen sowie den neurobiologischen Mechanismen, die bei einer posttraumatischen Belastungsstörung eine Rolle spielen.
Unsichtbare Narben: Bewältigung von Traumata und PTBS- Teil 2 (Link einfügen: https://www.psytastic.de/post/bew%C3%A4ltigung-von-traumata-und-ptbs) – Im Folgeartikel geht es um therapeutische Möglichkeiten wie EMDR und kognitive Verhaltenstherapie, um praktische Alltagstipps für Angehörige sowie um erste Erkenntnisse zur transgenerationalen Weitergabe von Traumafolgen.
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