Wenn die Welt zu viel wird: Wie wir mit Ohnmachtsgefühlen in Krisenzeiten umgehen können
- Tina
- vor 7 Tagen
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Ständige Krisen und Unsicherheiten belasten unsere Psyche – oft ohne dass wir es bewusst merken. Dieser Artikel erklärt, warum wir in Stress geraten, und nutzt eine anschauliche Metapher, um typische Reaktionsmuster verständlich zu machen. Außerdem bekommst Du praktische Tipps, wie Du mit Ohnmachtsgefühlen umgehen und Deine innere Stärke stärken kannst.
In den letzten Jahren hat sich unser Alltag stark verändert: Immer neue Krisen prasseln auf uns ein. Klimakrise, politische Spannungen, wirtschaftliche Unsicherheiten, Kriege – die Welt wirkt unberechenbarer denn je. Oft fühlt es sich so an, als passiere alles gleichzeitig und direkt vor der eigenen Haustür: Dank Nachrichten und sozialer Medien dringen globale Entwicklungen in Echtzeit bis zu uns vor, selbst wenn sie geografisch weit entfernt sind. Viele Menschen erleben dabei eine Art Dauerkrisenmodus. Eine Krise ist noch nicht vorbei, da kündigt sich schon die nächste an. Die Folge: Unsicherheit, ständige Alarmbereitschaft, Stress. Manche fühlen sich hilflos oder überfordert, andere suchen aktiv nach Wegen, mit der Situation umzugehen.
Wissenschaftler:innen haben untersucht, wie sich diese Wahrnehmung von multiplen Krisen auf unsere psychische Gesundheit auswirkt. Besonders wichtig dabei: Nicht nur die Krisen selbst, sondern vor allem unsere Bewertung und unser Umgang damit beeinflussen, wie stark wir belastet sind.
Fight, Flight, Freeze, Fawn: Wie sich Stress in Krisenzeiten äußert
Ein zentrales menschliches Grundbedürfnis ist das Gefühl von Kontrolle. Wenn wir den Eindruck haben, eine Situation im Griff zu haben, fühlen wir uns sicherer und handlungsfähiger. Umgekehrt führt das Erleben von Überforderung oder Hilflosigkeit dazu, dass wir in Stress geraten. Entscheidend dabei ist nicht nur, was tatsächlich passiert, sondern vor allem, wie wir die Anforderungen bewerten: Glauben wir, dass wir die Situation bewältigen können, unterstützt uns das Stresssystem sogar dabei, mobil zu bleiben. Problematisch wird es, wenn dieses Gefühl der Bedrohung nicht mehr nachlässt. In Zeiten von Dauerkrisen wie der Klimakrise oder sogenannten Multikrisen, bei denen eine Krise ausbricht, während die vorherigen noch gar nicht beendet sind, bleibt das Bedürfnis nach Kontrolle unerfüllt oder wird sogar dauerhaft bedroht. Dann geraten wir in einen anhaltenden Alarmmodus, der Körper und Psyche belastet und unser Wohlbefinden beeinträchtigen kann.
Neben den klassischen, weithin bekannten Reaktionen Fight (Kampf) und Flight (Flucht), die ursprünglich von dem Physiologen Walter Cannon beschrieben wurden, unterscheidet die Traumaforschung zusätzlich noch die Muster Freeze (Erstarren) und Fawn (Anpassen). Während Fight und Flight vor allem auf aktive Verteidigung oder Rückzug setzen, beschreiben Freeze und Fawn eher Reaktionen auf überwältigende Bedrohungen, bei denen weder Kampf noch Flucht möglich erscheinen. Der Begriff „Fawn“ wurde von Pete Walker aus der klinischen Praxis eingeführt. Er ist noch nicht so umfassend wissenschaftlich etabliert wie die anderen drei Muster, findet aber insbesondere in der Trauma- und Bindungsforschung zunehmend Beachtung.
Wichtiger Hinweis: Die folgende Übertragung adaptiver Stressreaktionen auf gesellschaftliches Verhalten ist kein wissenschaftlich etabliertes Modell, sondern ein Versuch, psychologische Reaktionsmuster in einem neuen Kontext zu verstehen. Es geht also nicht darum, Menschen in feste Kategorien zu stecken, sondern darum, nachvollziehbar zu machen, welche Reaktionen in Krisenzeiten entstehen können – und was uns helfen kann, damit umzugehen.
Fight – Die Aktivistischen
Die Fight-Reaktion (Kampf) beschreibt eine aktive Antwort auf Bedrohung. Sie ist biologisch verankert als Mobilisierung zur Verteidigung oder zum Angriff, wenn wir das Gefühl haben, uns behaupten zu müssen. Psychologisch gesehen kann dieses Muster sehr kraftvoll sein: Wer aktiv wird, erlebt oft ein Gefühl von Selbstwirksamkeit – das heißt, dass man das Gefühl hat, etwas bewirken zu können.
Übertragen auf die aktuellen Krisenzeiten zeigt sich die Fight-Reaktion vor allem in Form von Engagement und Aktivismus. Menschen, die hier zu finden sind, nehmen an Klimaprotesten teil, schließen sich politischen Bewegungen an, organisieren Hilfsinitiativen oder nutzen Social Media, um lautstark auf Missstände aufmerksam zu machen. Diese aktive Herangehensweise hilft, dem Gefühl von Hilflosigkeit entgegenzuwirken und Kontrolle zurückzugewinnen. Forschungen zeigen sogar, dass Aktivismus die individuelle Resilienz fördern kann.
Doch diese Strategie hat nicht nur Vorteile. Aktiv zu sein, bedeutet oft auch, sich mit Rückschlägen, Widerständen und manchmal dem Ausbleiben spürbarer Erfolge auseinanderzusetzen. Wer sich ständig für Veränderungen einsetzt, läuft Gefahr, sich zu überfordern, auszubrennen oder sich radikalen Positionen zuzuwenden, wenn Frustration zu groß wird. Aktivismus kann also einerseits ein gesunder und empowernder Umgang mit Krisen sein – birgt aber auch das Risiko, dass man sich selbst aus dem Blick verliert.
Flight – Die Rückzüglichen
Die Flight-Reaktion (Flucht) beschreibt das Bedürfnis, sich von einer Bedrohung zu entfernen. Ursprünglich bedeutete das: sich in Sicherheit bringen, Distanz schaffen. Psychologisch übersetzt sich das in den Wunsch, belastende Situationen zu vermeiden oder sich abzulenken, um sich vor emotionaler Überforderung zu schützen.
In der heutigen Krisenwelt zeigt sich dieses Muster oft in Form von Eskapismus – also dem bewussten oder unbewussten Ausweichen vor belastenden Realitäten. Menschen in diesem Modus meiden Nachrichten, ziehen sich in Serien, Social Media oder andere Konsumformen zurück oder lenken sich mit Hobbys oder Unterhaltung ab. Der Vorteil dieser Strategie liegt auf der Hand: Indem wir uns distanzieren, verschaffen wir uns kurzfristige Entlastung. Wir schützen unsere emotionale Stabilität und vermeiden es, in einen ständigen Alarmzustand zu geraten. Allerdings hat diese Reaktion auch ihre Schattenseiten. Wer Belastendes dauerhaft verdrängt, läuft Gefahr, wichtige Themen zu ignorieren, was Ängste langfristig verstärken kann. Zudem kann übermäßiger Rückzug in Isolation münden – mit dem Risiko, sich immer mehr aus sozialen Zusammenhängen herauszunehmen. Mit anderen Worten: Flight ist eine verständliche, kurzfristig oft hilfreiche Strategie, um Luft zu holen. Langfristig braucht es aber bewusste Auseinandersetzung, um nicht in Vermeidungsmuster zu verfallen, die mehr schaden als nützen.
Selbstreflexion: Woran kann ich erkennen, dass Eskapismus zur Belastung wird?
· Ich vermeide belastende Themen dauerhaft, nicht nur gelegentlich.
Ich fühle mich zunehmend isoliert oder habe mich aus wichtigen sozialen Kontakten zurückgezogen.
Ich habe das Gefühl, die Realität nicht mehr „aushalten“ zu können.
Meine Strategien (z. B. Serien, Social Media, Hobbys) nehmen immer mehr Raum ein und schieben andere wichtige Lebensbereiche beiseite.
Ich spüre Ängste oder Unsicherheiten, die ich nicht mehr klar einordnen oder bewältigen kann.
Freeze – Die Erstarrten
Die Freeze-Reaktion (Erstarren) beschreibt das Phänomen, dass Menschen in überwältigenden Situationen handlungsunfähig werden. Statt zu kämpfen oder zu fliehen, „frieren“ Körper und Psyche ein – vergleichbar mit einem Totstellreflex. Diese Reaktion kann kurzfristig sinnvoll sein, um Reize zu regulieren und einen Moment der Orientierung zu gewinnen, wenn keine direkte Handlung möglich erscheint.
In der heutigen Krisenwelt äußert sich dieses Muster oft in Passivität oder innerem Rückzug. Menschen fühlen sich machtlos, sagen sich „Es bringt ja eh nichts mehr“ und ziehen sich aus gesellschaftlichen Diskussionen oder Nachrichten zurück. Manche entwickeln eine Art Apathie (Gefühl von Teilnahmslosigkeit oder emotionaler Abstumpfung, oft verbunden mit dem Verlust von Interesse oder Motivation) gegenüber gesellschaftlichen Entwicklungen oder verzichten auf soziale Aktivitäten, obwohl die Bedrohungen um sie herum zunehmen. Auch dieses Muster hat Vor- und Nachteile. Kurzfristig kann es helfen, sich vor Reizüberflutung zu schützen und das Nervensystem zu entlasten. Doch wenn dieser Zustand anhält, kann chronische Passivität entstehen. Das Risiko: Gefühle von Ohnmacht, sozialer Rückzug und möglicherweise depressive Verstimmungen. Menschen, die in der Freeze-Reaktion verharren, laufen Gefahr, sich immer weiter von der Welt abzukapseln – und genau das verstärkt oft das Gefühl, keinen Einfluss mehr zu haben.
Fawn – Die Angepassten
Die Fawn-Reaktion (Anpassen) beschreibt das Bestreben, Sicherheit durch Gefügigkeit oder Anpassung zu finden. Dieses Muster wurde von Pete Walker in der Traumaforschung eingeführt und bezieht sich vor allem auf Situationen, in denen Menschen versuchen, Konflikte zu vermeiden, indem sie sich unterordnen, gefallen wollen oder eigene Bedürfnisse zurückstellen.
Übertragen auf die heutigen Krisenzeiten bedeutet das: Manche Menschen schweigen bei problematischen politischen Entwicklungen, passen sich trotz eigener Bedenken an gesellschaftliche Trends an oder idealisieren führende Persönlichkeiten nach dem Motto: „Die wissen schon, was richtig ist.“ Der Wunsch nach Harmonie, Zugehörigkeit und Sicherheit steht hier im Vordergrund – und das kann kurzfristig tatsächlich entlasten. Doch diese Strategie hat auch Risiken. Wer dauerhaft eigene Überzeugungen unterdrückt oder notwendige Konfrontationen vermeidet, läuft Gefahr, sich selbst zu verlieren. Langfristig können innere Konflikte entstehen, weil das eigene Handeln nicht mehr zu den persönlichen Werten passt. Außerdem besteht das Risiko, dass notwendige Veränderungen blockiert werden, weil man lieber „mitläuft“, anstatt sich auseinanderzusetzen. Mit anderen Worten: Anpassung kann in unsicheren Zeiten kurzfristig Schutz bieten – aber es lohnt sich, wachsam zu bleiben, ob man dabei nicht wichtige Teile der eigenen Identität preisgibt.
Und jetzt?
Auch wenn diese vier Reaktionsmuster sehr unterschiedlich sind, haben sie eines gemeinsam: Sie sind zunächst einmal normale, menschliche Reaktionen auf überwältigende Situationen. Doch wenn sie dauerhaft anhalten oder sich zu starren Strategien verfestigen, können sie unser Wohlbefinden belasten – ganz gleich, ob wir kämpfen, fliehen, erstarren oder uns anpassen. Deshalb stellt sich am Ende die wichtige Frage: Was können wir tun, um besser mit dem Gefühl von Ohnmacht und Kontrollverlust umzugehen? Welche Strategien helfen uns, in Krisenzeiten handlungsfähig und psychisch stabil zu bleiben, ohne uns selbst zu überfordern?
Tipps, um besser mit Kontrollverlust und Ohnmachtsgefühlen umzugehen
Im Rahmen der eigenen Möglichkeiten handeln: Wir müssen nicht alles tun, aber kleine Schritte innerhalb unserer Möglichkeiten können uns wieder das Gefühl geben, etwas bewirken zu können.
Medienkonsum achtsam steuern: Es hilft, sich bewusst Auszeiten von Nachrichten und Social Media zu nehmen, statt sich permanent zu überfordern.
Resilienz stärken: Sich selbst daran erinnern, dass schwierige Zeiten nicht dauerhaft sind – und dass man schon andere Belastungen überstanden hat.
Kognitive Flexibilität üben: Das bedeutet, gedanklich beweglich zu bleiben und nicht starr in einem Schwarz-Weiß-Denken zu verharren. Es gibt oft mehr als nur „alles ist schlimm“ oder „alles ist gut“.
Selbstfürsorge ernst nehmen: Für Körper, Psyche und soziale Beziehungen sorgen. Dazu gehört auch, Gefühle nicht wegzuschieben, sondern sie bewusst zu benennen.
Expressives Schreiben nutzen: Das 5-Spalten-Schema (Situation, Gedanken, Gefühle, alternative Gedanken, neue Gefühle) kann helfen, belastende Gedanken zu sortieren und neue Perspektiven zu gewinnen. Eine Anleitung dazu, findest Du hier:

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