Psychologische Sichtweisen auf chronischen Schmerz – warum die Psyche so wichtig ist
- Diana
- 22. Okt.
- 6 Min. Lesezeit

Wenn man an Schmerz denkt, denkt man meistens an etwas sehr Körperliches: Ein Signal aus dem Gewebe, das uns vor Gefahr warnen soll. Doch wer schon einmal länger unter Schmerzen gelitten hat, weiß, dass es damit nicht getan ist. Besonders bei chronischen Schmerzen, bei denen manchmal auch keine eindeutige körperliche Ursache gefunden wird, wird schnell deutlich: Der Körper allein erklärt nicht, warum Schmerzen bleiben, sich verstärken oder den Alltag so stark einschränken. Genau hier kommt also die Psychologie ins Spiel.
Denn wie wir Schmerzen wahrnehmen, welche Bedeutung wir ihnen geben, welche Gefühle sie auslösen und wie wir darauf reagieren, beeinflusst, ob Schmerzen zur Dauerbelastung werden oder ob wir Wege finden, damit umzugehen. So können uns psychologische Modelle helfen zu verstehen, warum Schmerzen manchmal ein Eigenleben entwickeln und was Betroffene und Angehörige dagegen tun können.
Das Biopsychosoziale Modell
Eines der bekanntesten Modelle, das die komplexen Zusammenhänge von Schmerz verdeutlicht, ist das sogenannte Biopsychosoziale Modell. Es zeigt, dass Schmerz immer im Zusammenspiel von Körper, Psyche und sozialem Umfeld verstanden werden muss. Besonders bei chronischen Schmerzen wird dieses Modell wichtig, denn diese lassen sich oft nicht mehr allein durch körperliche Ursachen erklären.
Auch die International Classification of Diseases (ICD-11) unterstreicht diese Sichtweise: Chronischer Schmerz wird demnach als Schmerz in einem oder mehreren Körperbereichen definiert, der
länger als drei Monate anhält oder wiederkehrt,
Mit deutlicher emotionaler Belastung einhergeht (z. B. Angst, Stress, depressive Stimmung)
und zu signifikanten Einschränkungen im Alltag führt, etwa in Arbeit, Hobbys oder sozialen Rollen.
Diese Definition verdeutlicht, dass Schmerz keine rein objektive Größe ist, sondern eine komplexe, persönliche Erfahrung, die auf allen drei Ebenen wirkt.
Ebenen des Schmerzes
Körper (biologische Ebene)
Diese Ebene umfasst alle körperlichen Faktoren, die Schmerzen beeinflussen können, wie Verletzungen, Entzündungen oder Krankheiten. Aber auch Alter, körperliche Fitness, Schlaf und hormonelle Einflüsse bestimmen, wie der Schmerz erlebt wird.
Psyche (psychologische Ebene)
Unsere Gedanken und Gefühle spielen eine große Rolle: Angst, Ärger, Stress oder depressive Stimmung können Schmerzen verstärken. Auch unsere Überzeugungen über die Ursachen und Folgen von Schmerzen, Bewältigungsstrategien wie Schonung oder Durchhalten und persönliche Einstellungen sind entscheidend.
Soziales Umfeld (soziale Ebene)
Unterstützung durch Familie, Verständnis im Beruf oder auch gesellschaftliche Vorstellungen darüber, wie „echter“ Schmerz aussehen muss, prägen ebenfalls den Umgang mit chronischen Beschwerden.
Bei langanhaltenden Schmerzen greifen diese drei Ebenen eng ineinander. Körperliche Beschwerden, etwa Rücken- oder Gelenkschmerzen, können psychisch belasten, während Sorgen, Angst oder Frustration die körperliche Schmerzempfindung zusätzlich verstärken. Auch das soziale Umfeld ist maßgebend: Wenig Verständnis von Familie, Freund:innen oder Kolleg:innen kann Stress und negative Gefühle auslösen, was den Schmerz wiederum subjektiv noch intensiver macht. Dieses Zusammenspiel zeigt, dass chronische Schmerzen nicht isoliert betrachtet werden dürfen. Eine wirksame Therapie berücksichtigt daher alle Ebenen und setzt auf einen multimodalen Ansatz, der medizinische, psychologische und soziale Maßnahmen kombiniert.
Das Fear-Avoidance-Modell
Während das biopsychosoziale Modell die Grundlagen verdeutlicht und zeigt, dass körperliche, psychische und soziale Faktoren eng zusammenwirken, beschreibt das Fear-Avoidance-Modell, wie bestimmte psychische Reaktionen – insbesondere Angst und Vermeidung – den Schmerz verstärken und aufrechterhalten können. Es demonstriert, warum manche Betroffene in einen Teufelskreis aus Schmerz, Angst und Schonverhalten geraten.
Die gelernt Angst vor dem Schmerz
Das Fear-Avoidance-Modell wurde ursprünglich entwickelt, um zu erklären, warum manche Menschen besonders lange unter chronischen Rückenschmerzen litten. Heute weiß man, dass die Mechanismen des Modells auch bei anderen hartnäckigen chronischen Schmerzen entscheidend sind. Im Mittelpunkt steht hier vor allem die Angst vor dem Schmerz – sei es aus eigener Erfahrung oder durch das Beobachten, wie andere Schmerzen erleben.
Wer Angst hat, dass bestimmte Bewegungen oder Tätigkeiten Schmerzen auslösen, neigt dazu, diese zu vermeiden. Auf den ersten Blick wirkt das sinnvoll, langfristig kann es aber den Schmerz verstärken: Die betroffenen Körperregionen werden weniger bewegt, Muskeln bauen ab und der Körper wird empfindlicher.
Gleichzeitig entstehen weniger Gelegenheiten, positive Erfahrungen ohne Schmerzen zu machen. Wer aus Angst bestimmte Bewegungen oder Aktivitäten meidet, erlebt seltener, dass der Körper diese Tätigkeiten gut bewältigen kann - ohne dass Schmerzen auftreten. Dadurch bleibt die Befürchtung bestehen, dass jede Bewegung schmerzhaft ist, die Angst verstärkt sich zunehmend und das Vertrauen in den eigenen Körper wird geschwächt. Dieser Kreislauf aus Angst, Vermeidung und körperlicher Einschränkung kann zusätzliche psychische Belastungen wie depressive Stimmung, Reizbarkeit oder Frustration hervorrufen.
Hypervigilanz: Auf jeden Schmerz bedacht
Manche Betroffene entwickeln auch eine verstärkte Aufmerksamkeit für jeden Schmerzreiz im Körper – sie „horchen“ quasi ständig auf Signale wie Muskelverspannungen, Pochen oder Ziehen. Schon kleine körperliche Empfindungen werden als bedrohlich wahrgenommen, was Stress und Anspannung verstärkt. Diese ständige Wachsamkeit kann den Alltag stark beeinträchtigen: Aufgaben bei der Arbeit, Hobbys oder soziale Kontakte geraten in den Hintergrund, weil die Aufmerksamkeit immer wieder auf den eigenen Körper zurückkehrt. Viele Betroffene berichten, dass sie sich kaum entspannen können, weil sie ständig darauf achten, ob sich der Schmerz verschlimmert. Auf lange Sicht kann diese Überempfindlichkeit die Schmerzen aufrechterhalten oder sogar intensivieren.
Entscheidend ist, wie Schmerz wahrgenommen wird: Wird er als gefährlich eingeschätzt, steigt die Wahrscheinlichkeit, dass Angst entsteht und bestimmte Aktivitäten vermieden werden. Genau hier setzt das Fear-Avoidance-Modell an – es ist besonders hilfreich für Patient:innen, bei denen die Angst vor Schmerz ein zentraler Faktor ist. Therapeutische Ansätze wie Expositionsverfahren können helfen, die Angst Schritt für Schritt abzubauen, indem Betroffene gezielt Bewegungen oder Tätigkeiten ausprobieren, die zuvor Furcht ausgelöst haben. Auf diese Weise kann man nach und nach das Vertrauen in den eigenen Körper zurückgewinnen.
Das Avoidance-Endurance-Modell
Es gibt noch ein weiteres Modell, das einen wichtigen zusätzlichen Aspekt liefert. Im Gegensatz zum Fear-Avoidance-Modell berücksichtigt das Avoidance-Endurance-Modell nicht nur die Vermeidung von Aktivitäten, sondern auch die gegenteilige Strategie – nämlich die Überaktivität. Manche Betroffene neigen dazu, Schmerzen möglichst zu ignorieren und sich zu überlasten, was langfristig ebenfalls zu einer Verschlechterung des eigenen Zustands führen kann.
Avoidance-Reaktion (Vermeidung)
Sie entsteht häufig durch sogenanntes Katastrophisieren – also die Tendenz, Schmerzen als extrem bedrohlich zu interpretieren („Wenn ich mich bewege, mache ich bestimmt etwas kaputt“). Aus dieser Angst heraus ziehen sich Betroffene oft zurück, schonen sich übermäßig und verlieren dadurch an Beweglichkeit, Kraft und Lebensqualität - ähnlich wie es bereits im Fear-Avoidance-Modell beschrieben wird.
Endurance-Reaktion (Durchhalten)
Das Gegenteil sind Strategien, bei denen Schmerzen eher verdrängt oder kleingeredet werden. Manche unterdrücken ihre Beschwerden („Ich darf gar nicht daran denken“), andere bagatellisieren sie („Ach, so schlimm ist das nicht, ich mache einfach weiter“). Kurzfristig mag das funktionieren, langfristig führt es jedoch leicht zu Überlastung, Erschöpfung und einer Verschlimmerung der Symptome.
Das Modell macht deutlich: Sowohl zu viel Schonung als auch zu viel Durchhalten können die chronischen Schmerzen verstärken. Für eine erfolgreiche Behandlung ist es daher entscheidend, einen gesunden Mittelweg zu finden – also die eigenen Grenzen wahrzunehmen, ohne in Angststarre oder Überlastung zu verfallen. Doch wie soll das gehen? Das Modell verdeutlicht, wie wichtig es ist, dysfunktionale schmerzbezogene Gedanken (z. B. „Bewegung ist gefährlich“ oder „ich muss das einfach aushalten“) zu erkennen und zu verändern. In der Therapie, v.a. in der kognitiven Verhaltenstherapie, geschieht das häufig über Aufklärung, gezielte Übungen und psychologische Unterstützung. So lernen Betroffene, sich weder vom Schmerz lähmen zu lassen noch ihn stur zu ignorieren, sondern mit einem ausgewogeneren Umgang langfristig mehr Lebensqualität zurückzugewinnen.
Fazit: Hoffnung trotz chronischer Schmerzen
Chronische Schmerzen sind vielschichtig und komplex – sie entstehen nicht nur durch körperliche Faktoren, sondern werden auch stark von psychologischen Prozessen und dem sozialen Umfeld beeinflusst.
Für Betroffene und ihre Angehörigen können die vorgestellten Modelle wichtige Erklärungs- und Orientierungshilfen bieten. Sie zeigen, dass die Schmerzen nicht nur „eingebildet“ sind, sondern dass es Mechanismen gibt, die das Leiden verstärken oder abmildern können. Gleichzeitig vermitteln sie Handlungsmöglichkeiten: Durch Therapie, bewussten Umgang mit Angst und Aktivität sowie die Veränderung dysfunktionaler Gedanken können Schmerzen gelindert werden. Deshalb kann es sinnvoll sein, neben ärztlichen Untersuchungen auch frühzeitig therapeutische Angebote wahrzunehmen, um die chronischen Schmerzen gezielt behandeln zu können.
Auch wenn chronische Schmerzen herausfordernd und belastend sind, gibt es Möglichkeiten, aktiv mit ihnen umzugehen und schrittweise wieder mehr Kontrolle über das eigene Leben zu erlangen. Die vorgestellten Modelle verdeutlichen dabei, dass Schmerzen keineswegs unveränderlich sind!





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