
Stell dir vor, dein Partner oder ein Familienmitglied hat eine depressive Episode. Plötzlich lastet die gesamte Verantwortung des Alltags auf deinen Schultern. Während manche Menschen in einer solchen Situation den Überblick bewahren, fühlen sich andere überfordert. Warum empfinden wir Stress so unterschiedlich? Die Antwort kann in unseren individuellen Bewertungsprozessen liegen. In diesem Artikel erfährst du, warum Stress nicht nur von äußeren Umständen abhängt, sondern vor allem davon, wie wir diese bewerten. Das transaktionale Stressmodell nach Lazarus zeigt, wie deine persönliche Sichtweise den Stress beeinflusst – und wie du daran arbeiten kannst, ihn zu verringern.
Bedrohlich, schädlich, herausfordernd oder schlicht unwichtig? Du hast Einfluss darauf, wie du eine möglicherweise belastende Situation bewertest.
Was Stress wirklich ist
Stress ist nicht grundsätzlich schlecht. Manchmal hilft er uns, Höchstleistungen zu bringen oder herausfordernde Situationen zu meistern – man spricht dann von „Eustress“. Wird Stress jedoch zu einer dauerhaften Belastung, entsteht „Distress“, der uns mental und körperlich zusetzen kann. Frühe Stresstheorien konzentrierten sich vor allem auf objektive Auslöser und körperliche Reaktionen. Die sogenannte Reiz-Reaktions-Theorie beschrieb Stress als direkte Antwort des Körpers auf äußere Stressoren wie Lärm oder Gefahr. Doch diese Perspektive hatte eine Schwachstelle: Sie konnte nicht erklären, warum manche Menschen mit denselben Stressoren problemlos umgehen, während andere unter ihnen leiden.
Das transaktionale Stressmodell: Warum deine Bewertung entscheidend ist
Das transaktionale Stressmodell (TSM), entwickelt von Richard Lazarus und Susan Folkman, brachte in den 1980er-Jahren einen entscheidenden Wandel in die Stressforschung. Es löste die rein biologischen und mechanischen Ansätze ab, indem es den Menschen und seine Bewertung der Situation in den Mittelpunkt stellte. Der Grundsatz des TSM lautet: Stress ist das Ergebnis einer dynamischen Wechselwirkung zwischen Mensch und Umwelt. Das bedeutet, dass Stress nicht allein durch äußere Ereignisse entsteht, sondern durch die Bedeutung, die wir diesen Ereignissen beimessen.
Wie das TSM die Stresstheorie revolutionierte
Im Gegensatz zu früheren Modellen geht das TSM davon aus, dass Stress nicht universell ist, sondern subjektiv erlebt wird. Zwei Menschen können denselben Stressor erfahren – etwa eine akute psychotische Episode eines Familienmitglieds – und dennoch völlig unterschiedlich darauf reagieren. Der Schlüssel liegt in den Bewertungsprozessen:
Primäre Bewertung: Hier entscheidet unser Gehirn, ob eine Situation für uns relevant ist. Halten wir die Situation für unwichtig, entsteht kein Stress. Bewerten wir sie jedoch als potenziell bedrohlich, schädlich oder herausfordernd, wird der Stressprozess in Gang gesetzt. Beispiel: Du erfährst, dass dein:e Partner:in eine Panikattacke hatte. Es besteht keine Vorgeschichte, die Attacke ist gut erklärbar und du bist überzeugt, sie war ein einmaliges Ereignis. Du bewertest die Situation als ungefährlich und es entsteht wenig Stress. Möglicherweise besteht aber eine Vorgeschichte und du entwickelst die Sorge, dass dein:e Partner:in eine Panikstörung entwickeln könnte. Bewertest du die Situation als potenziell bedrohlich, entsteht deutlich mehr Stress.
Sekundäre Bewertung: Sobald eine Situation als relevant eingestuft wird, prüfen wir nach dem TSM, ob wir die Ressourcen haben, um sie zu bewältigen. Dies können innere Ressourcen wie Selbstvertrauen oder entwickelte Fähigkeiten sein, aber auch äußere Ressourcen wie Unterstützung durch andere oder eine stabile wirtschaftliche Lebenssituation sein.
Angehörige psychisch Erkrankter erleben oft, dass sie ihre Bewältigungsfähigkeiten infrage stellen: „Bin ich stark genug, um das durchzustehen? Wer kann mir helfen?“
Bewältigungsversuche: Basierend auf der sekundären Bewertung wählen wir eine Strategie. Problemorientierte Ansätze zielen darauf ab, die Situation zu verändern, etwa durch das Finden von professioneller Hilfe. Emotionsorientierte Strategien helfen uns, die Bedeutung der Situation umzudeuten, zum Beispiel durch Reframing („Diese Herausforderung lässt mich wachsen“).
Der Erfolg der Bewältigung wird schließlich neu bewertet, und der Prozess beginnt von vorn.
Was macht das TSM so besonders?
Das TSM unterscheidet sich grundlegend von früheren Theorien durch seine dynamische Sichtweise. Stress ist nicht einfach ein automatischer Reflex auf einen äußeren Reiz. Vielmehr ist er das Ergebnis eines aktiven Bewertungs- und Bewältigungsprozesses, der individuell unterschiedlich abläuft. Diese Perspektive hat in der psychologischen Betreuung von Angehörigen psychisch Erkrankter großen Einfluss, da sie zeigt, wie wichtig individuelle Unterstützung und Ressourcen sind.
Was du tun kannst: Stressbewertung im Alltag
Die gute Nachricht ist, dass du aktiv an deiner Stressbewertung arbeiten kannst. Hier sind ein paar Tipps:
• Bewusstsein schaffen: Achte darauf, welche Gedanken dir in stressigen Situationen durch den Kopf gehen. Welche Bedeutung gibst du der Situation?
• Reframing üben: Versuche, die Perspektive zu wechseln. Statt zu denken: „Ich bin völlig überfordert“, könntest du sagen: „Es ist okay, Hilfe anzunehmen.“
• Ressourcen stärken: Suche aktiv nach Unterstützung – sei es durch Gespräche mit Freund*innen, Selbsthilfegruppen oder professionelle Hilfe.
Fazit
Das transaktionale Stressmodell besagt, dass Stress nicht einfach ein unvermeidbarer Reflex auf äußere Belastungen ist, sondern das Ergebnis unserer individuellen Bewertung. Erst, wenn wir eine Situation als bedrohlich oder herausfordernd einschätzen und das Gefühl haben, keine ausreichenden Ressourcen zur Bewältigung zu besitzen, entsteht Stress. Für Angehörige psychisch Erkrankter bietet dieses Modell wichtige Erkenntnisse: Indem du deine Bewertungsprozesse reflektierst und gezielt veränderst, kannst du dein Stressempfinden beeinflussen. Problem- und emotionsorientierte Bewältigungsstrategien helfen dir, belastende Situationen entweder aktiv zu verändern oder deine innere Haltung zu überdenken.
Am Ende gilt: Stress ist ein dynamischer Prozess, den du gestalten kannst – durch bewusste Reflexion, gezielte Unterstützung und die richtige Balance zwischen Selbstfürsorge und aktiver Problemlösung.
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