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Leben im Gefühlschaos: Die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung verstehen

  • Inga
  • vor 14 Minuten
  • 6 Min. Lesezeit

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Die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung verstehen – impulsiver Typ & Borderline-Typ im Fokus

Die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung (EIPS) zählt zu den tiefgreifendsten und zugleich oft missverstandenen psychischen Erkrankungen. Sie tritt in zwei klinisch unterscheidbaren Hauptformen auf: dem impulsiven Typ und dem Borderline-Typ. Während der impulsive Typ vor allem durch Kontrollverlust, Wutausbrüche und Reizbarkeit geprägt ist, stehen beim Borderline-Typ instabile Beziehungen, Identitätsunsicherheit und intensive emotionale Krisen im Vordergrund.


Beiden Formen gemeinsam ist eine starke emotionale Reizbarkeit, geringe Impulskontrolle und erheblicher Leidensdruck im sozialen, beruflichen und persönlichen Bereich. In diesem Artikel beleuchten wir beide Typen – mit Blick auf Symptome, Ursachen und Behandlungsmöglichkeiten.


Was ist die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung?

Die emotional-instabile Persönlichkeitsstörung (EIPS) ist eine fundamentale Störung der Emotions- und Impulskontrolle. Sie gehört zur Gruppe der Persönlichkeitsstörungen und ist durch instabile, oft übermäßig heftige Gefühlsreaktionen, impulsives Verhalten und erhebliche Schwierigkeiten in zwischenmenschlichen Beziehungen gekennzeichnet. In der internationalen Klassifikation der Krankheiten (ICD-10) wird sie unter dem Diagnoseschlüssel F60.3 geführt und in zwei Unterformen unterteilt


1. Impulsiver Typ (F60.30)

Beim impulsiven Typ stehen vor allem plötzliche Gefühlsausbrüche, ausgeprägte Reizbarkeit und eine niedrige Frustrationstoleranz im Vordergrund. Betroffene handeln häufig unüberlegt, insbesondere unter emotionalem Stress. Wutausbrüche, aggressives Verhalten oder selbstschädigende Handlungen (z. B. riskantes Verhalten, Substanzmissbrauch) treten oft impulsiv und ohne klaren Auslöser auf.

 

Wichtig: Anders als beim Borderline-Typ fehlen hier meist die stark ausgeprägten Identitätsprobleme oder tiefgreifenden Beziehungskonflikte. Die emotionale Instabilität zeigt sich eher als unmittelbare Reaktion auf Frustration oder Provokation.

2. Borderline-Typ (F60.31)

Der Borderline-Typ stellt eine spezifischere und bekanntere Variante der EIPS dar. Neben emotionaler Impulsivität treten hier ausgeprägte Identitätsstörungen, chronische innere Leere, starke Angst vor dem Verlassenwerden sowie intensive, häufig instabile zwischenmenschliche Beziehungen auf. Typisch sind auch selbstverletzendes Verhalten und Suizidgedanken als Ausdruck von emotionalem Schmerz oder innerer Anspannung. Das Erleben schwankt stark – zwischen Idealisierung und Abwertung, Nähebedürfnis und Rückzug, Hoffnung und Verzweiflung.

 

Beide Untertypen haben eine gemeinsame Grundlage: Schwierigkeiten in der Regulation von Emotionen, eine erhöhte Empfindlichkeit gegenüber Zurückweisung und eine stark belastete Selbstwahrnehmung – wenn auch in unterschiedlicher Ausprägung und mit teils unterschiedlichem Schwerpunkt im Verhalten.


Typische Merkmale – Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Ob impulsiv oder borderline-geprägt – Betroffene kämpfen oft mit intensiven Emotionen, einer instabilen Selbstwahrnehmung und zwischenmenschlichen Konflikten. Hier eine Übersicht der häufigsten Symptome, wie sie im ICD-10 und DSM-5 beschrieben werden:

  • Impulsivität: Überstürztes Handeln, selbstschädigendes Verhalten, riskanter Konsum (beide Typen)

  • Affektive Instabilität: Schnell wechselnde, intensive Emotionen wie Wut, Verzweiflung, Euphorie oder Angst (beide Typen)

  • Reizbarkeit und Wutausbrüche: Besonders ausgeprägt beim impulsiven Typ

  • Gestörtes Selbstbild: Tiefe Unsicherheit, Leere, schwankendes Selbstwertgefühl (vor allem Borderline-Typ)

  • Instabile Beziehungen: Wechsel zwischen Idealisierung und Abwertung (Borderline-Typ)

  • Verlassenheitsängste: Übermäßige Reaktionen auf reale oder vermutete Zurückweisung (Borderline-Typ)

  • Suizidale Impulse: Häufig bei emotionaler Überwältigung (insbesondere Borderline-Typ)

 

Obwohl sich die Schwerpunkte unterscheiden, bestehen viele Überlappungen. Eine klare Diagnose setzt deshalb eine umfassende klinische Einschätzung voraus.


Komorbiditäten: Wenn nicht nur eine Diagnose das Leben prägt

Bei der emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung – insbesondere dem Borderline-Typ (nach ICD-10) – treten häufig komorbide psychische Erkrankungen auf. Diese Begleiterkrankungen sind nicht nur weit verbreitet, sondern beeinflussen auch den Verlauf, das Erleben und die Therapiemöglichkeiten erheblich. Sie können sowohl Ursache als auch Folge der Persönlichkeitsstörung sein – oder sich in einem wechselseitigen Kreislauf gegenseitig verstärken.


Häufige komorbide Erkrankungen im Überblick:

1. Affektive Störungen

  • Depressionen (Major Depression, Dysthymie)

  • Bipolare Störung (seltener, aber differentialdiagnostisch relevant)

2. Angststörungen

  • Generalisierte Angststörung

  • Panikstörung

  • Soziale Phobie

  • Posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) – sehr häufig, besonders bei traumatischem Hintergrund

3. Essstörungen

4. Substanzkonsumstörungen

5. Dissoziative Störungen

 

Wichtig: Komorbiditäten sind eher Regel als Ausnahme. Für eine wirksame Therapie ist eine differenzierte Diagnostik entscheidend – insbesondere, um primäre Erkrankungen von solchen zu unterscheiden, die reaktiv auf die Persönlichkeitsstörung entstanden sind.

Wie fühlen sich Betroffene? – Ein Blick nach innen

Viele Menschen mit EIPS erleben sich als emotional „überflutet“ – mit Gefühlen, die plötzlich und heftig auftreten und sie regelrecht überwältigen. Sie berichten von:

  • Innerer Zerrissenheit: „Ich weiß oft nicht, wer ich bin oder was ich wirklich will.“

  • Gefühlschaos: „Meine Emotionen kippen innerhalb von Sekunden – von Liebe zu Wut, von Euphorie zu Leere.“

  • Scham und Schuld: „Ich weiß, dass mein Verhalten übertrieben wirkt – aber in dem Moment kann ich nicht anders.“

  • Starke Angst vor Ablehnung: „Schon ein falscher Blick kann sich anfühlen wie ein Stich ins Herz.“

  • Verzweiflung über die eigene Unkontrollierbarkeit: „Ich verliere mich in mir selbst – es fühlt sich an wie Kontrollverlust von innen.“

 

Diese innere Not wird oft nicht gesehen, sondern als „Drama“ oder „Überempfindlichkeit“ abgetan. Dabei kämpfen Betroffene täglich mit der schmerzhaften Diskrepanz zwischen dem Wunsch nach Stabilität und dem Erleben ständiger innerer Unsicherheit.


Ursachen: Wie entstehen emotional-instabile Persönlichkeitsstörungen?

Die Entstehung beider Formen ist komplex. Persönlichkeitsstörungen entstehen nicht „über Nacht“, sondern meist im Zusammenspiel mehrerer belastender Faktoren.

Das biosoziale Modell nach Marsha Linehan bietet einen nachvollziehbaren Erklärungsansatz:

  • Frühe Traumatisierungen: Viele Betroffene berichten von emotionaler Vernachlässigung, inkonsistenter Erziehung, Missbrauch oder einem Mangel an verlässlicher Bindung in der Kindheit.

  • Biologische Vulnerabilität: Eine angeborene emotionale Empfindsamkeit und hohe Reizoffenheit erhöhen das Risiko, auf Stress überaktiv zu reagieren.

  • Invalidierende Umwelt: Wenn emotionale Bedürfnisse als „übertrieben“ abgewertet oder ignoriert werden, lernen Kinder nicht, ihre Gefühle angemessen zu regulieren. Stattdessen entwickeln sich destruktive Muster wie Rückzug, Wut oder Selbstverletzung.


Dieses Zusammenspiel kann bei beiden Typen zu tiefgreifenden Störungen der Emotionsverarbeitung und Beziehungsgestaltung führen – beim impulsiven Typ mit Fokus auf Reizbarkeit und Handlungsdruck, beim Borderline-Typ mit starker Beziehungsangst und Identitätsdiffusion.


Therapie: Hilfe ist möglich – für beide Typen

Lange Zeit galten emotional-instabile Persönlichkeitsstörungen als schwer oder kaum behandelbar. Doch inzwischen zeigen zahlreiche Studien, dass gezielte psychotherapeutische Verfahren nachhaltige Verbesserungen ermöglichen – sowohl für den Borderline- als auch für den impulsiven Typ.

 

Etablierte Therapieansätze:

  • Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT): Speziell für Borderline entwickelt, aber auch für den impulsiven Typ hochwirksam. Sie fördert Emotionsregulation, Achtsamkeit, soziale Kompetenzen und die Fähigkeit, in Krisen handlungsfähig zu bleiben.

  • Schematherapie: Bearbeitet früh entstandene „Lebensfallen“ – also tief verankerte, dysfunktionale Glaubensmuster. Besonders hilfreich bei Beziehungsthemen und wiederkehrenden inneren Konflikten.

  • Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT): Hilft, Gedanken, Gefühle und Handlungen bei sich selbst und anderen besser zu verstehen – eine Schlüsselkompetenz bei gestörter Emotionsverarbeitung.


Zusätzliche Ansätze – insbesondere hilfreich beim impulsiven Typ:

  • mpulskontrolltraining: Unterstützt dabei, zwischen Reiz und Reaktion bewusst innezuhalten und alternative Verhaltensweisen zu entwickeln.

  • Achtsamkeitstraining: Fördert Selbstwahrnehmung, Stressreduktion und emotionale Distanzierung von akuten Impulsen.

  • Soziale Kompetenztrainings: Hilfreich zur Verbesserung des Konfliktverhaltens und der Frustrationstoleranz.


Auch medikamentöse Unterstützung kann in bestimmten Fällen – etwa bei begleitenden Depressionen, Ängsten oder starker Reizbarkeit – sinnvoll sein, sollte aber stets begleitend zur Psychotherapie eingesetzt werden.


Ziel der Therapie: Stabilität, nicht Perfektion

Bei beiden Typen geht es nicht darum, Persönlichkeitsmerkmale zu „eliminieren“. Ziel ist es, mit Gefühlen besser umgehen zu können, sich selbst und andere differenzierter wahrzunehmen und ein stabileres, selbstbestimmtes Leben zu führen. Viele Betroffene erleben durch langfristige therapeutische Begleitung deutliche Fortschritte – etwa im Aufbau stabiler Beziehungen, im beruflichen Alltag oder im Umgang mit Krisen.


Für Angehörige: Zwischen Verständnis und Selbstschutz

Wenn ein geliebter Mensch von einer emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung betroffen ist, kann das belastend, verwirrend und manchmal auch verletzend sein.


Wichtig zu wissen:

  • Verhalten ist oft nicht gegen Sie gerichtet, sondern Ausdruck von innerer Not

  • Grenzen setzen ist erlaubt und wichtig, auch wenn es Schuldgefühle auslöst

  • Sie dürfen sich Unterstützung holen – in Angehörigengruppen, durch Psychoedukation oder eigene therapeutische Begleitung

 

Was hilft im Umgang?

  • Bleiben Sie klar und berechenbar, nicht aus Angst nachgeben

  • Reagieren Sie auf Eskalationen ruhig, nicht konfrontativ

  • Fördern Sie Verbindlichkeit und Struktur

  • Zeigen Sie Verständnis für das Gefühl, aber nicht unbedingt für das Verhalten

  • Holen Sie sich selbst Hilfe – Sie müssen das nicht allein tragen


Ein Appell: Beziehung statt Bewertung

Menschen mit emotional-instabiler Persönlichkeitsstörung sind nicht „zu empfindlich“, „zu launisch“ oder „zu anstrengend“. Sie sind oft besonders feinfühlig, verletzlich – und zugleich voller Sehnsucht nach Verbundenheit, Sicherheit und innerer Ruhe. Eine empathische, akzeptierende therapeutische Beziehung kann den entscheidenden Unterschied machen – ebenso wie Verständnis und Geduld im sozialen Umfeld. Betroffene brauchen keine Etiketten, sondern echte Beziehungen – auf Augenhöhe.


    Denn: Veränderung ist möglich. Und Hoffnung auch.

Quellen

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Bildquellen: https://www.pexels.com/de-de/foto/frau-sitzung-sitzen-jeans-9774247/ & https://www.pexels.com/de-de/foto/stadt-kunst-kreativ-strasse-7231416/


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