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Leben in der Stille: Die schizoide Persönlichkeitsstörung verstehen (SPS)

  • Inga
  • 27. Aug.
  • 5 Min. Lesezeit
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Die schizoide Persönlichkeitsstörung verstehen – Rückzug,

emotionale Distanziertheit und innere Autarkie im Fokus

Die schizoide Persönlichkeitsstörung (SPS) gehört zu den sogenannten "exzentrischen" Störungen des Clusters A. Im Gegensatz zur emotional-instabilen Persönlichkeitsstörung bleibt sie oft unbemerkt – leise, kontaktarm, von außen kaum auffällig. Betroffene wirken emotional kühl, vermeiden enge Beziehungen und bevorzugen ein Leben in innerer Autonomie. Doch hinter dieser scheinbaren Unberührtheit verbergen sich komplexe psychodynamische Prozesse.


In diesem Artikel werfen wir einen differenzierten Blick auf Symptome, Differenzialdiagnostik, Erklärungsmodelle und Therapieoptionen dieser oft übersehenen Störung.

Was ist die schizoide Persönlichkeitsstörung?

Die SPS ist gekennzeichnet durch eine tiefgreifende Störung im Bereich der sozialen Interaktion, der Emotionsverarbeitung und des zwischenmenschlichen Interesses. Betroffene zeigen ein deutlich vermindertes Bedürfnis nach engen persönlichen Beziehungen, empfinden soziale Kontakte oft als anstrengend oder irrelevant und wirken gegenüber positiven wie negativen Rückmeldungen auffallend gleichgültig. Charakteristisch ist zudem eine eingeschränkte Bandbreite affektiver Ausdrucksformen, die oft als "emotional unterkühlt" beschrieben wird. Typisch ist eine ausgeprägte Vorliebe für Einzelbeschäftigungen, ein ausgeprägtes Rückzugsverhalten und eine starke Fokussierung auf innere Fantasiewelten oder abstrakte Interessen. Freude an gemeinschaftlichen Aktivitäten, emotionaler Nähe oder körperlicher Intimität ist bei vielen kaum vorhanden oder fehlt gänzlich.


Gemäß ICD-10 (F60.1) umfasst die Diagnose unter anderem folgende Merkmale:

  • Deutlich vermindertes Interesse an sexuellen oder emotionalen Beziehungen mit anderen Menschen

  • Ständige Präferenz für Aktivitäten, die allein ausgeführt werden

  • Mangel an engen Freunden oder Vertrauten außerhalb der Familie

  • Geringe Freude an Tätigkeiten, die anderen Menschen meist Freude bereiten

  • Indifferenz gegenüber Lob oder Kritik

  • Ausgeprägte emotionale Kühle, Distanziertheit oder eingeschränkte Affektivität

  • Deutliches Desinteresse an sozialen oder gesellschaftlichen Normen und Konventionen

 

Auch im DSM-5 (APA, 2013) wird die SPS als stabile Persönlichkeitskonfiguration beschrieben, die spätestens im jungen Erwachsenenalter beginnt und sich durch ein durchgängiges Muster sozialer Isolation, eingeschränkter Emotionalität und zwischenmenschlicher Gleichgültigkeit kennzeichnet. Die Störung muss in verschiedenen Lebensbereichen manifest sein und zu funktionalen Beeinträchtigungen führen, um diagnostisch relevant zu sein.


Wie fühlen sich Betroffene? – Ein Blick nach innen

Obwohl Menschen mit SPS nach außen hin als emotionslos, unterkühlt oder sogar desinteressiert erscheinen mögen, verbirgt sich hinter dieser Fassade oft eine komplexe und empfindsame innere Erlebniswelt. Viele berichten von einem intensiven inneren Erleben – geprägt von gedanklicher Tiefe, philosophischer Reflexion oder kreativen Fantasien – das jedoch selten geteilt oder nach außen vermittelt wird.


Typische Selbstaussagen verdeutlichen die besondere psychische Innenwelt:

  • Ein starker Wunsch nach Unabhängigkeit: „Ich fühle mich nur wohl, wenn niemand etwas von mir erwartet.“ Beziehungen werden häufig als potenzielle Bedrohung der Selbstbestimmung erlebt.

  • Innere Distanz zu sich selbst: „Emotionen sind für mich schwer greifbar.“ Viele empfinden Gefühle als vage oder irritierend, wodurch sie diese eher intellektualisieren als spontan ausdrücken.

  • Soziale Überforderung: „Menschen ermüden mich.“ Der Kontakt mit anderen wird nicht selten als energieraubend oder sinnentleert erlebt.

  • Ambivalente Nähewünsche: „Ich möchte manchmal dazugehören – aber weiß nicht wie.“ Hinter der Fassade der Autarkie kann sich ein diffuses, scham- oder angstbesetztes Bedürfnis nach Verbindung verbergen.

 

Diese Ambivalenz zwischen Rückzug und Kontaktwunsch ist psychodynamisch bedeutsam: Beziehung wird als potenziell überwältigend erlebt – ein Terrain, das mit Kontrollverlust, Entgrenzung oder früher Zurückweisung assoziiert ist.


Um sich vor diesen Affekten zu schützen, entwickeln Betroffene ein autonomes Selbstkonzept, das von außen als emotional abgeschirmt oder gleichgültig erscheinen kann.

Die affektive Distanziertheit ist dabei weniger Ausdruck von Gefühllosigkeit als vielmehr Ergebnis komplexer innerer Schutzmechanismen.


Ursachen: Wie entsteht eine schizoide Persönlichkeitsstörung?

Die schizoide Persönlichkeitsstörung entsteht in einem Zusammenspiel genetischer, neurobiologischer, psychodynamischer und psychosozialer Faktoren. Ihre Ätiologie ist vielschichtig und noch nicht vollständig geklärt, jedoch deuten verschiedene Befunde auf ein multifaktorielles Bedingungsgefüge hin.

  • Genetische und biologische Grundlagen:

    Zwillings- und Familienstudien legen nahe, dass es eine genetische Prädisposition für schizoide und schizotype Merkmalsausprägungen geben könnte – insbesondere im Spektrum schizophrener Erkrankungen. Eine erhöhte Prävalenz schizotypischer oder schizophrener Symptome bei biologischen Verwandten von SPS-Betroffenen stützt diese Hypothese. Auch neurobiologische Korrelate – etwa eine verminderte Aktivierung limbischer Strukturen bei affektiver Stimulation – werden diskutiert, sind aber bisher nicht konsistent belegt.

  • Entwicklungspsychologische Risikofaktoren:

    - Frühkindliche Bindungsstörungen: Ein zentraler Risikofaktor sind emotionale Vernachlässigung oder zurückweisendes elterliches Verhalten in der frühen Kindheit. Eine inkonsistente, überfordernde oder affektiv unterversorgte Beziehungserfahrung kann dazu führen, dass sich Kinder von ihren Affekten abspalten und eine Strategie der Autarkie und Selbstberuhigung entwickeln.

    - Emotionale Negierung: Wiederholte Erfahrungen, bei denen kindliche Gefühlsäußerungen als übertrieben, störend oder irrelevant abgetan wurden, können zur Internalisierung der Annahme führen, dass Emotionen gefährlich oder wertlos sind.

    - Introjektiver Schutz: Im Sinne psychodynamischer Theorien kann die frühe Ablehnung emotionaler Nähe zur Entwicklung eines „autarken Selbst“ führen – einer psychischen Struktur, die Beziehungen vermeidet, um sich vor erneuter Verletzung zu schützen. Die Grundannahme lautet dann oft: „Ich brauche niemanden – so kann mich auch niemand verletzen.“


Das psychodynamische Verständnis sieht die schizoide Persönlichkeitsstruktur als Resultat einer frühen, präverbalen Konfliktverarbeitung. Der Rückzug in die Innenwelt wird dabei als funktionaler Schutzmechanismus verstanden, der vor dem affektiven Chaos unzuverlässiger Beziehungen schützt, aber langfristig zu Isolation, innerer Leere und Unfähigkeit zur affektiven Resonanz führen kann.


Differenzialdiagnostik: SPS ist nicht gleich Autismus

Die SPS muss sorgfältig von anderen Störungen abgegrenzt werden:

  • Autismus-Spektrum-Störungen (ASS): ASS beginnt deutlich früher (vor dem 3. Lebensjahr), zeigt stereotype Verhaltensmuster und eingeschränkte Theory of Mind. SPS-Betroffene wirken hingegen emotional distanziert, aber sozial angepasst.

  • Depression: Sozialer Rückzug bei Depression geht mit Leidensdruck, Antriebsmangel und negativen Kognitionen einher – bei SPS fehlt meist dieser subjektive Druck.

  • Schizotype Störung: Hier treten zusätzlich magisches Denken und Wahrnehmungsverzerrungen auf.


Komorbiditäten: Nicht selten, aber oft übersehen

Auch wenn SPS-Betroffene selten freiwillig in Behandlung kommen, zeigen sie häufig Begleiterkrankungen:


  • Dysthyme Störungen

  • Soziale Phobie

  • Vermeidende Persönlichkeitszüge

  • Suchtverhalten (vor allem als Coping-Strategie gegen Einsamkeit)


Oft sind es diese begleitenden Störungen – wie depressive Symptome, Ängste oder soziale Unsicherheiten –, die den Ausschlag geben, professionelle Hilfe aufzusuchen. Die schizoide Persönlichkeitsstruktur bleibt dabei jedoch häufig unerkannt oder wird erst im Verlauf der therapeutischen Beziehung

deutlich.

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Therapie: Was hilft wirklich?

Die schizoide Persönlichkeitsstörung gilt als schwer behandelbar, jedoch nicht unbehandelbar. Entscheidend ist eine therapeutische Haltung, die Distanz respektiert und Beziehung vorsichtig aufbaut.


Wirksame Therapieansätze:

  • Psychodynamische Therapie: Fokus auf Beziehungsangebote, Affektdifferenzierung und Exploration innerer Fantasien. Hohe Geduld und Frustrationstoleranz erforderlich.

  • Schematherapie: Bearbeitung von Schemata wie "Ich bin anders" oder "Niemand kann mir näherkommen". Nutzung der "begrenzten elterlichen Nachbeelterung" als korrigierende Erfahrung.

  • Verhaltenstherapie: Zielgerichtete Sozialtrainings, Aufbau positiver Aktivitäten, Konfrontation mit Vermeidungsverhalten

  • Mentalisierungsbasierte Therapie (MBT): Besonders geeignet bei komorbiden Störungen und affektiven Dysregulationen

·       Medikamentöse Ansätze spielen nur bei ausgeprägter Komorbidität (z. B. Depression) eine Rolle.


Ein Appell: Beziehung statt Interpretation

Menschen mit schizoider Persönlichkeitsstörung brauchen keine "Aktivierung", keine Aufrufe zur Gefühlsäußerung – sie brauchen Raum, Sicherheit und ein Gegenüber, das sie in ihrer stillen Existenz anerkennt. Beziehung entsteht hier nicht durch Nähe, sondern durch fein abgestimmte Distanz. Veränderung ist auch hier möglich. Nicht durch Druck, sondern durch präsente, geduldige therapeutische Begleitung.


Quellen

American Psychiatric Association. (2013). Diagnostic and statistical manual of mental disorders (5th ed.). https://doi.org/10.1176/appi.books.9780890425596

Bailey, T. M., & Freedenfeld, R. N. (2002). Schizoid personality disorder: An integrative review. Journal of Personality Disorders, 16(6), 524–541. https://doi.org/10.1521/pedi.16.6.524.22138

Fonagy, P., Gergely, G., Jurist, E. L., & Target, M. (2002). Affect regulation, mentalization, and the development of the self. Other Press.
Kernberg, O. F. (2004). Aggression in personality disorders and perversions. Yale University Press.

McWilliams, N. (2011). Psychoanalytic diagnosis: Understanding personality structure in the clinical process (2nd ed.). Guilford Press.

Oldham, J. M. (2005). Guideline watch: Practice guideline for the treatment of patients with borderline personality disorder. Focus, 3(2), 238–243. https://doi.org/10.1176/foc.3.2.238

Torgersen, S., Lygren, S., Øien, P. A., Skre, I., Onstad, S., Edvardsen, J., Tambs, K., & Kringlen, E. (2000). A twin study of personality disorders. Comprehensive Psychiatry, 41(6), 416–425. https://doi.org/10.1053/comp.2000.16560

World Health Organization. (2019). ICD-10: Internationale Klassifikation psychischer Störungen (10. Revision). Huber.

Bildquellen: https://www.pexels.com/de-de/foto/person-die-auf-strasse-zwischen-baumen-geht-25763/ & https://www.pexels.com/de-de/foto/paar-hande-menschen-frau-5217839/

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