top of page

Chronische Schmerzen – warum sie alles andere als eingebildet sind

  • Diana
  • 15. Okt.
  • 5 Min. Lesezeit
ree

Stell dir vor: Du hast seit Monaten Schmerzen. Du gehst von Arzt zu Arzt, lässt dich untersuchen, machst Tests – und trotzdem findet niemand eine klare organische Ursache. In der Fachsprache spricht man da manchmal von “Ärztehopping” oder “Doctor Shopping”. Damit ist die wiederholte Suche nach medizinischer Hilfe gemeint, wenn keine eindeutige Diagnose gefunden wird – ein verständlicher Versuch, Antworten zu finden, um die Schmerzen in den Griff zu bekommen. 


Vielleicht hattest du sogar einmal eine Erklärung für deine Schmerzen, jedoch gilt auch diese mittlerweile als „geheilt“. Aber wie kann das sein? Die Schmerzen sind doch immer noch vorhanden! Und anstatt Verständnis für diese verwirrende Lage zu erfahren, musst du dir Sätze anhören wie: „Das ist bestimmt nur Kopfsache“ oder „Du darfst dich nicht so reinsteigern.“Für viele Betroffene ist genau das die Realität: Neben den anhaltenden Schmerzen kommt noch die zusätzliche Belastung durch Zweifel, Anschuldigungen und das Gefühl, nicht ernst genommen zu werden.



Millionen Menschen betroffen – und doch so unterschätzt

Chronische Schmerzen sind alles andere als selten. Schätzungen zufolge leiden in Deutschland rund 17 % der Erwachsenen dauerhaft darunter – also fast jede*r Fünfte. Besonders häufig treten unspezifische Rückenschmerzen und Kopfschmerzen auf, die oft keine eindeutige organische Ursache haben. Die Folgen sind jedoch enorm: von eingeschränkter Lebensqualität über häufige Arbeitsunfähigkeiten bis hin zu psychischen Begleitproblemen wie Depressionen oder Schlafstörungen. 


Da stellt sich schnell die Frage: Was verstehen wir eigentlich unter „Schmerz“? Oft wird er ausschließlich als körperliches Signal gesehen – ein Warnhinweis des Körpers, dass etwas nicht stimmt. Doch in Wirklichkeit ist Schmerz viel mehr: ein komplexes Zusammenspiel von Körper, Psyche und dem sozialen Umfeld.


Was ist “Schmerz”?

Die International Association for the Study of Pain (IASP) betrachtet Schmerz nicht einfach als ein Signal des Körpers. Zwar kann er durch echte Gewebeschäden entstehen, doch auch Faktoren wie Stress, Ängste oder frühere Schmerzerfahrungen können ihn beeinflussen. Schmerz ist daher immer eine persönliche Erfahrung, geprägt von Körper, Geist und Umwelt. Das heißt: Nur weil keine sichtbare Verletzung vorliegt, ist der Schmerz nicht „eingebildet“. Schmerz ist real und ernst zu nehmen, ganz gleich, wie er entsteht.


Akuter vs. Chronischer Schmerz

Schmerzen hat vermutlich jeder schon einmal empfunden – sei es nach einer Verletzung, einem Sturz oder einer Operation. In den meisten Fällen handelt es sich um den akuten Schmerz, der nach kurzer Zeit wieder abklingt und dem Körper signalisiert, dass etwas nicht stimmt. Der chronische Schmerz sieht jedoch anders aus: Er hält oft Monate oder sogar Jahre an, manchmal ohne klare körperliche Ursachen.


Die folgende Tabelle zeigt die wichtigsten Unterschiede auf einen Blick:

Akuter Schmerz

Chronischer Schmerz

Kurzfristig (wenige Tage – Wochen)

Länger als 3 Monate, dauerhaft oder wiederkehrend

Meist klare Ursache (z.B. Verletzung)

Ohne organische Ursache oder bleibt nach akuter Verletzung fortbestehen

Warnsignal des Körpers

Warnsignal verliert ihre Schutzfunktion 

Linderung durch Akutmaßnahmen, Heilung der Ursache

Multimodaler Ansatz nötig (medizinisch, psychologisch, sozial)

Begleiterscheinung eher als Folge der Verletzung

Häufige Begleiterscheinungen: Depressionen, Ängste, Schlafstörungen, soziale Belastungen

Vom Symptom zur chronischen Erkrankung – Wie wir die Schmerzen „lernen“

Chronische Schmerzen entstehen oft schleichend. Zunächst treten Schmerzen als Reaktion auf eine Verletzung oder Erkrankung auf. Schwierig wird es, wenn die Schmerzen über längere Zeit bestehen bleiben. Fehlt dann auch noch eine klare, greifbare Diagnose, führt das schnell zu Frustration und Hilflosigkeit. Diese Gefühle begünstigen oft übermäßige Schonung und sozialen Rückzug – Verhalten, das bei akutem Schmerz sinnvoll sein kann, bei chronischem Schmerz jedoch die Beschwerden sogar verstärken kann.


Das Schmerzgedächtnis

Ein zentraler Mechanismus bei chronischen Schmerzen ist das sogenannte Schmerzgedächtnis. Unser Nervensystem „lernt“ förmlich, Schmerzen wahrzunehmen – selbst wenn die ursprüngliche Verletzung längst geheilt ist. Normalerweise führt die wiederholte Darbietung schmerzhafter Reize zu einer Gewöhnung, der sogenannten Habituation, also zu einer Abnahme der Reaktion auf den Reiz. Bei Menschen mit chronischen Schmerzen passiert jedoch genau das Gegenteil: Statt sich zu gewöhnen, kommt es zu einer Sensitivierung – das Nervensystem reagiert zunehmend stärker auf Schmerzreize. Das erklärt, warum der Schmerz real und intensiv bleibt, auch wenn keine Verletzung mehr vorliegt. 


Zusätzlich können sich ungünstige Krankheitsverhaltensweisen entwickeln, welche den Schmerz und die psychische Belastung verstärken:


  • Rückzug aus sozialen Aktivitäten

  • Übermäßige Inaktivität und Schonung

  • Starke Fixierung auf medizinische Behandlungen

  • Zunahme von depressiven Gefühlen

  • Negatives Selbstbild („Ich bin ein Versager / Opfer meiner Schmerzen“)


Solche Verhaltensmuster können den Schmerz langfristig aufrechterhalten und die Lebensqualität erheblich mindern.


Folgen chronischer Schmerzen – Auswirkungen für Betroffene und Angehörige

Für Betroffene:

  • Frust, Stress und Druck durch nicht auffindbare organische Ursachen

  • Häufige Begleiterkrankungen, die entstehen können:

    • Depression

    • Angst

    • Schlafstörungen

  • Einseitige Perspektive auf das Leben, ständiges Grübeln über Schmerz

  • Dysfunktionale Aktivitätsmuster:

    • Überaktivität in schmerzarmen Phasen → Überforderung → wieder Schmerz

    • Inaktivität in darauffolgenden Schmerzphasen

  • Ruhe und Entspannung oft nur bei Schmerz („Rechtfertigung“ für Erholung)


Für Angehörige:

  • Alltägliche Aufgaben müssen übernommen werden → Erschöpfung

  • Gemeinsame Aktivitäten finden eingeschränkt statt oder fallen komplett weg

  • Ebenfalls sozialer Rückzug, um Betroffene nicht auszuschließen (Patient:in sieht sich als Belastung)

  • Risiko für Burnout oder depressive Verstimmungen

  • Zufriedenheit in Partnerschaft nimmt ab (abhängig von der Qualität schmerzbezogener Interaktionen)

  • Gefühl der Hilflosigkeit, weil man dem Schmerz des Patienten nicht direkt “helfen” kann → Unsicherheit, wie man richtig unterstützt

  • Schuldgefühle, wenn man Grenzen setzen muss 

  • Konflikte zwischen Eigeninteressen und Unterstützung des Patienten


Fazit: Den Schmerzen neu begegnen

Chronische Schmerzen bedeuten nicht, dass Betroffene für immer in diesem Zustand gefangen bleiben müssen. Unser Gehirn und Nervensystem sind formbar – sie können Schmerzreaktionen verstärken, aber genauso auch wieder abschwächen. Methoden wie kognitive Verhaltenstherapie, das Führen eines Schmerztagebuchs oder gezielte Entspannungs- und Achtsamkeitstechniken können helfen, alte Muster zu durchbrechen und neue Wege im Umgang mit Schmerz zu erlernen. Dabei ist entscheidend, aktiv mit dem Schmerz umzugehen, ihn anders zu bewerten und ihm Schritt für Schritt weniger Raum im Alltag zu bieten. So können Betroffene ihre Wahrnehmung verändern und wieder mehr Lebensqualität zurückgewinnen.


Im nächsten Artikel werfen wir einen Blick auf die psychologischen Sichtweisen der chronischen Schmerzen: Welche psychologischen Prozesse tragen dazu bei, dass Schmerzen bestehen bleiben oder sogar verstärkt werden? Wir erklären anschaulich, welche Rollen Angst, Schonverhalten und Stress spielen – und wie dieses Wissen Betroffenen und Angehörigen hilft, den Schmerz zu verstehen und den Alltag besser zu meistern.


Quellen

European Pain Federation. (2023, October 6). What is the Bio-Psycho-Social Model of Pain? - European Pain Federation. https://europeanpainfederation.eu/what-is-the-bio-psycho-social-model-of-pain/

Gesundheitskasse, A.-. D. (2025, March 3). Akute und chronische Schmerzen. AOK - Die Gesundheitskasse. https://www.aok.de/pk/magazin/koerper-psyche/gehirn-nerven/akute-und-chronische-schmerzen/

Göbel, H., & Göbel, H. (2016, December 18). Schmerzgedächtnis: Wie entsteht chronischer Schmerz? - Schmerzklinik Kiel. Schmerzklinik Kiel - Migräne, Kopfschmerzen, Nervenschmerzen spezialisiert behandeln. https://schmerzklinik.de/was-ist-das-schmerzgedaechtnis-und-wie-entsteht-chronischer-schmerz/

Kröner-Herwig, B., Gerhardt, A., & Rusu, A. (2017). Schmerzpsychotherapie. Springer.
Maier, J. (2020, March 4). Ärztehopping – was ist das und warum kommt es vor? praktischArzt. https://www.praktischarzt.de/magazin/aerztehopping/

Ojeda, B., Salazar, A., Dueñas, M., Torres, L. M., Micó, J. A., & Failde, I. (2014). The impact of chronic pain: The perspective of patients, relatives, and caregivers. Families Systems & Health, 32(4), 399–407. https://doi.org/10.1037/fsh0000069

Raja, S. N., International Association for the Study of Pain, Arendt-Nielsen, L., & Turner, J. (2020). IASP revises its definition of pain for the first time since 1979 [Journal-article]. PAIN. https://www.iasp-pain.org/wp-content/uploads/2022/04/revised-definition-flysheet_R2-1-1-1.pdf

Universitätsspital Zürich. (2025, May 30). Akute und chronische Schmerzen. USZ. https://www.usz.ch/krankheit/schmerzen-akuter-und-chronischer-schmerz/

Wolff, R., Clar, C., Lerch, C., & Kleijnen, J. (2011). Epidemiologie von nicht tumorbedingten chronischen Schmerzen in Deutschland. Der Schmerz, 25(1), 26–44. https://doi.org/10.1007/s00482-010-1011-2

Bildquelle: Ai Generiert Mann Rückenschmerzen - Kostenloses Bild auf Pixabay


Kommentare


bottom of page