Generalisierte Angststörung – Woher kommen Unterschiede zwischen Geschlechtern?
- Anna-Luca
- 28. Mai
- 6 Min. Lesezeit

Angst ist eine Emotion, die alle von uns aus verschiedenen Situationen in unterschiedlicher Intensität kennen. Bei einer Angststörung überschreitet jedoch die Angst dieses normale Maß. Die generalisierte Angststörung ist eine der häufigsten psychiatrischen Erkrankungen in Deutschland.
Aber was ist das eigentlich genau?
Personen, die an einer generalisierten Angststörung erkranken, sind laut dem Diagnostikmanual ICD-10 von Anspannung, ständiger Besorgnis und Befürchtungen bezüglich alltäglicher Ereignisse und Probleme betroffen, mit welchen körperliche und psychische Symptome einhergehen. Körperlich können beispielsweise eine erhöhte Herzfrequenz, Atembeschwerden, Schwindel oder Hitzewallungen auftreten. Zu den psychischen Symptomen gehören unter anderem die Angst vor Kontrollverlust oder die Angst zu sterben. Die Zusammensetzung der Symptome ist sehr individuell. Wichtig ist: Falls du dich in diesen Symptomen wiederfindest, empfehlen wir dir, professionelle Hilfe aufzusuchen. Hilfsangebote findest du hier: Hilfe für Angehörige | Psytastic
Die hier beschriebene Symptomauflistung ersetzt keine Diagnose. Was zu einer vollständigen Diagnosestellung einer psychischen Erkrankung dazugehört, kannst du hier lesen: Zwischen Aufklärung und Fehldiagnose: Die Rolle sozialer Medien bei psychischen Störungen
Wie viele Menschen sind betroffen?
Zwischen 4,3% und 5,9% der Deutschen erkranken in ihrem Leben mindestens einmal an einer generalisierten Angststörung. Einen besonders hohen Anstieg der Fallzahlen gab es 2020. Dafür liegt ein Zusammenhang mit der Coronapandemie nahe. Bei einem genaueren Blick auf die Statistiken fällt auf: Frauen erkranken deutlich häufiger als Männer. Während 2023 5,4% der Männer die Diagnose „Generalisierte Angststörung“ in der ambulanten Versorgung erhielten, waren es 9,9% der Frauen in Deutschland. Das ist fast doppelt so viel.
Welche Gründe gibt es für das unterschiedliche Vorkommen bei Männern und
Frauen?
Verschiedene Arbeiten zeigen: Geschlechterunterschiede in der Ängstlichkeit beginnen bereits im Kindesalter. Die Häufigkeit von Angststörungen ist schon im Alter von sechs Jahren bei Mädchen doppelt so hoch wie bei Jungen. Forschende haben aus diesem Grund die Gehirnstruktur und -funktionen von Frauen und Männern untersucht. Obwohl die Forschung noch in den Kinderschuhen steckt, konnten erste Hinweise auf Zusammenhänge herausgearbeitet werden. Die Bereiche im Gehirn, die unsere Ängstlichkeit beeinflussen, zeigen Unterschiede zwischen den Geschlechtern. Relevant scheint auch der Einfluss männlicher und weiblicher Hormone zu sein. Die Tatsache, dass Angststörungen kulturübergreifend bei Frauen häufiger auftreten, weist auf einen zumindest teilweise biologischen Einfluss hin. Dieser Faktor sollte in Zukunft jedoch noch im Detail untersucht werden.
Erwartungen und Sozialisierung
Klar ist weiterhin, dass Geschlechterrollen und damit verbundene Erwartungen im Erwachsenenalter eine größere Rolle zu spielen beginnen als in der Kindheit. Männer werden als Kinder häufig ermutigt, sich angsteinflößenden Situationen oder Objekten zu stellen und sind dadurch möglicherweise insgesamt stärker mit Angst und dem Umgang mit Angstreaktionen konfrontiert. Frauen werden im Kindesalter eher nicht von Vermeidung oder ängstlichem Verhalten abgehalten, sondern indirekt teilweise dazu ermutigt. Eine Studie zeigt, dass die Tendenz, in neuen Situationen gehemmt zu reagieren, also zum Beispiel mit Vermeidung, einen Risikofaktor für verschiedene Angststörungen darstellen kann.
„Hör auf zu weinen, ein echter Junge hat keine Angst!“
Diesen oder ähnliche Sätze hören viele Jungen in ihrer Kindheit bis heute immer wieder. Es wird suggeriert: Angst und Traurigkeit bedeuten Schwäche. Diese Aussagen können zu Glaubenssätzen führen, die Männer bis ins Erwachsenenalter beeinflussen. Wenn also tief verankert ist, dass ein Mann keine „Schwächen“ zeigen darf, ist es möglich, dass er bei der Beschreibung von Angst niedrigere Angaben macht, die nicht die ganze Realität abbilden. Dafür spricht eine Studie, welche eine physiologische Angstmessung in Kombination mit einem angeblichen Lügendetektor durchführte. Männer berichteten unter diesen Umständen von mehr Angst als ohne Lügendetektor; bei Frauen änderten sich die Werte nicht. Dieser Umstand kann auch dazu beitragen, dass Männer sich seltener professionelle Hilfe suchen. Personen, die sich keine Hilfe suchen, tauchen in den Statistiken offizieller Diagnosen nicht auf. Frauen zeigen insgesamt häufiger Komorbiditäten, also das Auftreten zweier oder mehr Erkrankungen bei einer Person; dasselbe gilt auch bei Angststörungen. Besonders häufig treten bei Frauen mit generalisierter Angststörung weitere Angststörungen oder depressive Erkrankungen auf. Der Leidensdruck kann dadurch verstärkt werden und dazu beitragen, dass Frauen häufiger professionelle Hilfe aufsuchen.
Soziale Rollen
Unterschiede in den sozialen Rollen von Männern und Frauen tragen außerdem dazu bei, dass sie jeweils unterschiedlichen Stressoren aus ihrer Umwelt ausgesetzt sind, die Risikofaktoren für eine (generalisierte) Angststörung sein können. Beispielsweise haben Frauen ein höheres Risiko, potenziell traumatischen Ereignissen wie sexualisierter oder häuslicher Gewalt ausgesetzt zu sein. Das Erleben von Traumata erhöht die Wahrscheinlichkeit der Entwicklung einer psychischen Erkrankung, darunter Angststörungen.
Zusätzlich haben auch Faktoren wie der sozioökonomische Status, die Familien- und die Arbeitssituation einen Einfluss darauf, wie vulnerabel eine Person für die Entwicklung einer Angststörung oder einer anderen psychischen Erkrankung ist. Das Zusammenwirken dieser Aspekte wird in Vulnerabilitäts-Stress-Modellen aufgegriffen. Wenn dich dieser und weitere Faktoren, die auf die Entwicklung von psychischen Erkrankungen einwirken, interessieren, findest du hier mehr: Zwischen Genen und Gesellschaft: Warum psychische Erkrankungen scheinbar zunehmen
Sieht eine generalisierte Angststörung bei Männern und Frauen gleich aus?
Die Symptome, die Männer und Frauen mit einer generalisierten Angststörung typischerweise beschreiben, unterscheiden sich häufig voneinander. Frauen berichten insgesamt nicht nur eine höhere Symptomintensität, sondern erfüllen auch häufiger die diagnostischen Kriterien gängiger Klassifikationssysteme wie dem ICD-10. Sie berichten mehr Ermüdungssymptome, Muskelverspannungen, Reizbarkeit und somatische Symptome. Männer beschreiben im Durchschnitt häufiger Spannungen oder Streit mit Familie, Freund:innen und Kolleg:innen sowie Alkohol- oder Drogenmissbrauch. Bei diesen Verhaltensweisen handelt es sich um externalisierendes Verhalten, das heißt, es richtet sich nach außen. Auch bei anderen psychischen Erkrankungen wie Depressionen ist beschrieben, dass sich diese bei einigen Männern durch ebenjene Art des Verhaltens zeigen, beispielsweise in Wutanfällen, einem Gefühl des Kontrollverlusts oder einer geringen Frustrationstoleranz. Es gibt zwei Möglichkeiten für diese Unterschiede: Einerseits können sie mit sozialer Erwünschtheit bei der Art des Berichtens zusammenwirken – also, dass einige Männer sich möglicherweise wohler damit fühlen, externalisierende Symptome wie Streitigkeiten zu berichten als ihr inneres Erleben. Das kann durch Unterschiede in der Sozialisierung der Fall sein. Eine andere Option ist, dass die diagnostischen Kriterien die typischen Symptome eines Mannes mit generalisierter Angststörung nicht adäquat abbilden und infolgedessen Frauen mehr Kriterien zu erfüllen scheinen. Für finale Schlussfolgerungen ist jedoch noch weiterführende Forschung notwendig.
Personen außerhalb des binären Systems
Die bisherige Forschung zu Ängstlichkeit und Angststörungen bei Personen, die sich als trans* oder non-binär identifizieren, weist insgesamt auf höhere Angstwerte hin als in Populationen von Personen, die sich mit ihrem biologischen Geschlecht identifizieren. Mehrere Einflussfaktoren könnten dabei eine Rolle spielen. Einerseits gehören diese Personen einer Minderheit an, die oft Vorurteilen, Stigmatisierung und Diskriminierung ausgesetzt ist. Dieser sogenannte Minderheitenstress kann zu einer höheren psychischen Belastung führen. Meist handelt es sich bei den in die Studien einbezogenen Personen zudem um bisher unbehandelte, die professionelle Hilfe aufsuchen – das sollte bei der Interpretation der Werte ebenfalls beachtet werden. In einer Literaturübersicht wurde herausgearbeitet, dass mehrere Studien auf höhere Angstwerte bei trans* Männern als bei trans* Frauen hinweisen. Allerdings variieren diese Ergebnisse zwischen Studien, welche laut verschiedenen Reviews methodische Mängel aufweisen. Das bedeutet, dass in diesem Feld ebenfalls noch deutlich mehr Forschung notwendig ist, um eindeutige Schlüsse ziehen zu können.
Wie sollten wir mit Betroffenen umgehen?
Wegen des zahlreichen Vorkommens der generalisierten und anderer Angststörungen in unserer Gesellschaft begegnet vielen von uns irgendwann eine Person mit dieser Erkrankung. Bei Unwissen kann das manchmal überfordernd sein. Dazu kommt, dass psychische Störungen sehr individuell sind. Wichtig ist, die Person ernst zu nehmen, ihr empathisch zuzuhören und Offenheit sowie Geduld zu zeigen. Auch zu hilfreichen Verhaltensweisen wie positiven Routinen oder der Organisation von professioneller Hilfe können wir Personen ermutigen und Unterstützung anbieten. Dabei sollten wir aber immer uns selbst im Auge behalten, unsere Grenzen reflektieren und die Selbstfürsorge nicht vergessen. Weitere Tipps zum Umgang mit Personen mit Angststörung findest du hier: Angststörung: Der richtige Umgang mit Betroffenen
Fazit
Die generalisierte Angststörung ist eine weit verbreitete psychische Erkrankung, der viele Menschen als Betroffene oder Angehörige mit hoher Wahrscheinlichkeit irgendwann in ihrem Leben begegnen. Die Unterschiede, die sich zwischen Frauen und Männern in puncto Häufigkeit und Ausprägung zeigen, sind das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels verschiedener Faktoren, die noch genauer untersucht werden müssen. Einzelne Aspekte geben einen ersten Aufschluss darüber, wo gesellschaftlich noch Entwicklungsbedarf besteht: Dass für alle Geschlechter ein sicherer Raum gegeben sein sollte, Sorgen, Ängste und andere Belastungen zu teilen. Nur so können wir eine offenere Gesprächskultur fördern und Stigmatisierungen verringern. Denn jede Person, die, unabhängig von Geschlecht oder Hintergrund, von einer generalisierten Angststörung oder einer anderen psychischen Erkrankung betroffen ist, sollte die Unterstützung erhalten, die sie braucht.
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