Zwischen Genen und Gesellschaft: Warum psychische Erkrankungen scheinbar zunehmen
- Tina
- 7. Mai
- 6 Min. Lesezeit

Psychische Gesundheit ist längst kein Nischenthema mehr. Ob in Talkshows, Klassenzimmern oder auf Social Media – was früher hinter verschlossenen Türen blieb, wird heute öffentlich verhandelt. Das sorgt für Sichtbarkeit und bringt Bewegung in ein lange stigmatisiertes Feld. Doch mit der wachsenden Aufmerksamkeit steigt auch die Verunsicherung: Werden psychische Erkrankungen tatsächlich häufiger? Werden wir „immer kränker“? Oder lernen wir einfach besser hinzuschauen, zu verstehen, zu benennen?
Datenlage
Wie oft bestimmte Krankheiten in einer bestimmten Gruppe über einen bestimmten Zeitraum vorkommen, wird in sogenannten epidemiologischen Untersuchungen erfasst. Dabei werden vor allem zwei Maße voneinander unterschieden: Inzidenz, also die Anzahl von Neuerkrankungen oder neuen Diagnosen, und die Prävalenz, also die Menge der Personen, die in diesem Zeitraum von einer Krankheit betroffen sind, unabhängig davon wann die Diagnose gestellt wurde.
Zwei große Projekte des Robert Koch Institut (RKI), die sich mit der psychischen Gesundheit der erwachsenen Bevölkerung Deutschlands befassen, sind die Auswertung der Krankenkassendaten der letzten Jahre und der Mental Health Survey (MHS), eine regelmäßige Telefonbefragung. Beide liefern wertvolle Einblicke – allerdings mit gewissen Einschränkungen, die man bei der Interpretation im Hinterkopf behalten sollte.
Die Krankenkassendaten erfassen nur Diagnosen, die professionell gestellt und abgerechnet wurden. Wer sich keine Hilfe sucht, taucht in diesen Statistiken also nicht auf. Die Folge: eine womöglich sehr hohe Dunkelziffer. Ein Anstieg der dokumentierten Diagnosen bedeutet also nicht automatisch, dass mehr Menschen eine psychische Störung entwickeln. Es kann auch heißen, dass sich der gesellschaftliche Umgang mit psychischer Gesundheit verändert – etwa durch Entstigmatisierung, eine höhere Sensibilität für Symptome oder ein verbessertes Hilfesuchverhalten.
Auch der MHS hat seine Eigenheiten. Er basiert auf telefonischen Selbstauskünften, also auf persönlichen Einschätzungen und subjektivem Empfinden. Auch soziale Erwünschtheit kann hier eine Rolle spielen. Wenn jemand depressive oder ängstliche Symptome beschreibt, heißt das zudem nicht automatisch, dass auch eine entsprechende klinische Diagnose vorliegt. Dafür bräuchte es eine professionelle Beurteilung.
Hinzu kommt, dass in beiden Fällen nur volljährige Personen berücksichtigt wurden. Vergleichbar umfassende Studien mit aktuellen Zahlen zur psychischen Gesundheit von Kindern und Jugendlichen wurden bisher nicht veröffentlicht. Trotz aller methodischen Hürden zeigen beide Quellen in die gleiche Richtung: Es scheint zunehmend schlechter um unsere psychische Gesundheit zu stehen.
Immer weniger Menschen bewerteten beim MHS ihre eigene psychische Gesundheit als „sehr gut“ oder „ausgezeichnet“. Zuletzt konnte das nur rund jede dritte Person von sich sagen. Noch vor wenigen Jahren war es fast jede zweite. Gleichzeitig wächst der Anteil derjenigen, die auf Basis ihrer eigenen Angaben in den Bereich auffälliger Belastung durch depressive Symptome fallen. Dasselbe gilt auch für die Befragungen zu Angstsymptomen. Es gibt jedoch einen kleinen Lichtblick: Zuletzt waren die Zahlen zu Depressions- und Angstsymptomatik leicht rückgängig. Ob es sich hierbei um eine lang überfällige Trendwende oder kurzfristige Schwankungen handelt, kann man an den Daten bisher aber nicht ablesen.
Spiegelt sich diese Selbsteinschätzung auch in den Diagnosen wider?
Nicht ganz. Zwar ist beispielsweise die Diagnoseprävalenz für psychische Erkrankungen insgesamt von 2012 bis 2023 von 33 % auf 40 % gestiegen, in den letzten Jahren (also dem Zeitraum, der auch im MHS abgedeckt wurde) waren die Prävalenzen allerdings relativ stabil. Ähnlich verhält es sich auch bei Depressionen und Angststörungen.


Bedeutet das jetzt, dass sich alle Befragten im MHS falsch einschätzen? Nein.
In den letzten Jahren hat sich einiges getan. Zum einen wird immer besser erforscht, wie sich psychische Erkrankungen äußern. Gleichzeitig wird in verschiedenen Medien immer mehr darüber gesprochen, welche Symptome es gibt, wie diese aussehen und wie wir sie benennen können. (Dass, das auch Gefahren mit sich bringen kann, könnt ihr hier nachlesen)
Dadurch entsteht ein größeres Bewusstsein für psychisches Wohlbefinden und auch für leichte oder vorübergehende Belastungen, die früher vielleicht gar nicht als behandlungsbedürftig wahrgenommen wurden. Menschen sind heute eher in der Lage, ihre eigenen psychischen Zustände zu reflektieren und Anzeichen von Stress, Angst oder Traurigkeit zu erkennen. Diese Sensibilisierung kann dazu führen, dass mehr Symptome berichtet werden – auch wenn sie nicht immer die Schwelle für eine klinische Diagnose erreichen.
Zudem legen Diagnosekriterien klare Schwellenwerte fest, ab wann eine Erkrankung vorliegt. Viele Menschen erleben jedoch Symptome, die zwar belastend, aber (noch) nicht so schwerwiegend sind, dass sie eine offizielle Diagnose rechtfertigen würden. Kurz gesagt: Die gestiegene Selbstwahrnehmung psychischer Belastungen spiegelt eine echte Veränderung im Bewusstsein wider – auch wenn die statistischen Diagnosen nicht im gleichen Maße zunehmen.
Wie entstehen psychische Krankheiten?
Anlage-Umwelt-Debatte
Hinter der Anlage-Umwelt-Debatte verbirgt sich eine lange, fächerübergreifende Diskussion darüber, ob Fähigkeiten, Persönlichkeitsmerkmale oder Einstellungen genetisch bedingt oder durch Umwelteinflüsse geformt werden. Sehr heiß diskutiert ist zum Beispiel die Frage, ob straffällig gewordene Personen bereits als „böse“ Menschen auf die Welt kamen, oder ob sie erst durch entsprechende soziale Erfahrungen „zu solchen gemacht wurden“. Dabei ist die Sache mit der Kausalität, also der Ursache-Wirkung-Beziehung, oft gar nicht so einfach. Stattdessen werden Zusammenhänge zwischen verschiedenen Einflüssen und psychischen Krankheiten untersucht. Dadurch können Risiko- und Schutzfaktoren benannt werden.
1: Anlage (biologische Faktoren)
Auf biologischer Ebene gibt es eine ganze Reihe von Einflussgrößen, die unsere psychische Gesundheit mitbestimmen können. Eine grundlegende Rolle spielt dabei die genetische Veranlagung. Dabei werden manche Erkrankungen eher erblich bedingt als andere. Eher hoch ist die Erblichkeit bei Schizophrenie, bipolaren Störungen, Autismus-Spektrum-Störungen und ADHS. Bei anderen Erkrankungen, etwa posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS), spielt die genetische Komponente hingegen eine deutlich kleinere Rolle. Wichtig ist: Es gibt nicht das eine Gen für eine bestimmte psychische Erkrankung. Vielmehr sind es viele genetische Varianten, die zusammenspielen – und selbst diese führen nicht zwangsläufig zur Erkrankung.
Hier kommt auch die Epigenetik ins Spiel. Denn unsere Umwelt kann Einfluss darauf nehmen, welche genetischen Informationen aktiviert oder abgeschaltet werden – ganz ohne die DNA selbst zu verändern. Faktoren wie Stress, Lebensstil oder individuelle Erfahrungen können also buchstäblich Spuren auf unseren Genen hinterlassen und damit auch das Risiko für psychische Erkrankungen beeinflussen.
Hinzu kommt: Körper und Psyche sind eng verbunden. Menschen mit chronischen körperlichen Erkrankungen haben z. B. ein erhöhtes Risiko, auch psychisch zu erkranken – etwa durch dauerhafte Belastung, Einschränkungen im Alltag oder Nebenwirkungen von Behandlungen. Zusätzlich gelten bestimmte körperliche Faktoren wie Hirnverletzungen, Infektionen, Vergiftungen oder auch der Konsum psychoaktiver Substanzen als Risikofaktoren.
2: Umwelt (psychosoziale Faktoren)
Neben biologischen Grundlagen spielen auch psychosoziale Faktoren eine entscheidende Rolle für die Entstehung und Entwicklung psychischer Erkrankungen. Besonders wichtig scheinen dabei die frühen Entwicklungsprozesse zu sein, in denen sich unser Denken, Fühlen und unsere Persönlichkeit Schritt für Schritt herausbilden – und die damit auch die Basis für unsere psychische Stabilität legen.
Auch äußere Lebensumstände wie der sozioökonomische Status (SÖS) haben einen spürbaren Einfluss. Hier gibt es unterschiedliche Ansichten zu Ursache-Wirkungs-Beziehungen: Die Stress-and-drain-Hypothese geht davon aus, dass ein niedriger SÖS mit einer Vielzahl belastender Lebensumstände einhergeht, die das Risiko für psychische Erkrankungen erhöhen. Die Social-Drift-Hypothese beschreibt den umgekehrten Effekt: Hiernach erleben Menschen mit psychischen Erkrankungen häufig einen sozialen Abstieg, etwa durch Jobverlust oder gesellschaftliche Isolation. Beide Effekte beschreiben denselben Endzustand und sind nicht nur theoretisch – auch im MHS zeigen sich deutliche Unterschiede zwischen verschiedenen Bildungsgruppen.
Ebenso bedeutend sind unsere Beziehungserfahrungen zu den Eltern, zu Freund:innen oder in Partnerschaften. Sie prägen unser Selbstbild, unser Vertrauen in andere und unsere Fähigkeit, mit Belastungen umzugehen. Wenn enge Beziehungen von Instabilität, Vernachlässigung oder Gewalt geprägt sind, kann das langfristige Folgen für die psychische Gesundheit haben.
Und nicht zuletzt: Krisen gehören zum Leben – aber manche treffen besonders hart. Trennungen, Verluste, Überforderung oder plötzlich einschneidende Lebensereignisse können wie ein Katalysator wirken und bestehende psychische Vulnerabilitäten verstärken oder überhaupt erst sichtbar machen.
Fazit
Psychische Gesundheit ist das Ergebnis eines komplexen Zusammenspiels aus biologischen, psychologischen und sozialen Einflüssen. Statt einem „entweder oder“ zwischen Anlage und Umwelt geht es also vielmehr um das „sowohl als auch“. Das zeigt sich besonders gut im sogenannten Vulnerabilitäts-Stress-Modell: Manche Menschen bringen durch genetische, neurobiologische oder psychosoziale Faktoren eine höhere Anfälligkeit für psychische Erkrankungen mit – diese Vulnerabilität allein führt aber noch nicht zur Erkrankung. Erst wenn belastende Faktoren hinzukommen, etwa Lebenskrisen oder chronischer Stress, kann sich eine Störung entwickeln. Dabei reagiert jede:r anders, denn auch die individuellen Bewältigungsstrategien und verfügbaren Ressourcen spielen eine entscheidende Rolle. Psychische Erkrankungen lassen sich also nie auf einen einzigen Auslöser zurückführen. Sie sind Ausdruck einer individuellen Geschichte, die sich zwischen biologischer Ausstattung und sozialer Realität entfaltet.
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