Dissoziale Persönlichkeitsstörung
- Alina
- vor 15 Minuten
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Was versteht man unter dissozialer Persönlichkeitsstörung?
Die dissoziale Persönlichkeitsstörung (DPS), im Englischen häufig als Antisocial Personality Disorder (ASPD) bezeichnet, ist eine tiefgreifende psychische Störung, die sich durch ein dauerhaftes Muster von Missachtung sozialer Normen, mangelndem Mitgefühl und verantwortungslosem Verhalten auszeichnet. Betroffene handeln oft impulsiv, manipulativ und zeigen wenig Reue, selbst bei schweren Grenzverletzungen gegenüber anderen Menschen.
In den internationalen Klassifikationssystemen wie dem DSM-5 (Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders) oder dem ICD-10 (Internationale Klassifikation der Krankheiten) ist die Störung eindeutig beschrieben. Die wichtigsten Kriterien umfassen unter anderem:
• Wiederholtes kriminelles Verhalten
• Täuschung und Manipulation
• Impulsivität
• Aggressivität und Reizbarkeit
• Verantwortungslosigkeit (z. B. im Beruf oder in finanziellen Angelegenheiten)
• Fehlendes Schuldbewusstsein
Ein wesentliches Merkmal ist, dass diese Verhaltensmuster nicht nur in einzelnen Situationen auftreten, sondern stabil über Jahre hinwegbestehen. Oft beginnen sie bereits in der Kindheit oder Jugend.
Warum ist die DPS ein relevantes Thema?
Neben dem klinischen Phänomen ist die dissoziale Persönlichkeitsstörung auch ein gesellschaftlich wichtiges Thema. Meist wird sie mit einem erhöhten Risiko für kriminelles Verhalten, sowie einer hohen Belastung im sozialen Umfeld in Verbindung gebracht.
Während in der Allgemeinbevölkerung die DPS mit einer Prävalenz von 0,2% bis 3% selten auftritt, ist sie in Gefängnissen und psychiatrisch-forensischen Einrichtungen deutlich erhöht. Dort zeigen bis zu 50% der Insassen Merkmale einer dissozialen Persönlichkeitsstörung. Die Störung spielt besonders bei der Einschätzung von Rückfallrisiken oder bei der Frage der Schuldfähigkeit eine große Rolle.
Im Alltag fallen gegenüber Patienten mit einer DPS häufig Begriffe wie „Psychopath“ oder „Soziopath“, womit eine moralische Verurteilung impliziert wird. Durch Filme, Serien oder True-Crime-Podcasts, in derer Personen mit DPS häufig als „böse“ und „skrupellos“ dargestellt werden, wird die gesellschaftliche Stigmatisierung gefördert. Darunter versteht man die negative Bewertung und Ausgrenzung einer Person, aufgrund eines Merkmals wie z.B. eine psychische Erkrankung.Solche Vorurteile schaden den Betroffenen zusätzlich und machen es schwer, ihre Situation unvoreingenommen zu betrachten.
Aufklärung ist ein wichtiger Bestandteil in der Behandlung der dissozialen Persönlichkeitsstörung. Durch frühe Prävention ist es möglich bereits im Kindesalter viele Risikofaktoren zu minimieren und somit möglicherweise einen schwerwiegenderen Verlauf zu verhindern. Ein besseres Verständnis kann aber auch dem sozialen Umfeld helfen, das Verhalten genauer einordnen zu können und sich weniger überfordert und emotional zu stark belastet zu fühlen.
Kein bloßes "böses Verhalten"
Bei der dissozialen Persönlichkeitsstörung handelt es sich nicht einfach um schlechtes Benehmen oder Rücksichtslosigkeit. Es ist eine tief verankerte Persönlichkeitsstruktur mit biopsychosozialen Ursachen. Die Unfähigkeit zur Empathie, mangelnde emotionale Tiefe und der geringe Zugang zu einem funktionierenden Schuldbewusstsein machen sie besonders herausfordernd, sowohl für Betroffene selbst als auch für ihr soziales Umfeld.
Ursachen und Risikofaktoren
Die Entstehung dieses Störungsbildes lässt sich nicht auf einen Auslöser zurückführen. Es handelt sich um ein komplexes Zusammenspiel biologischer, psychologischer und sozialer Faktoren, was auch als multifaktorielles Ursachenkonzept bezeichnet wird.
Neurobiologische Studien zeigen, dass Menschen mit dissozialen Persönlichkeitszügen Auffälligkeiten in bestimmten
Hirnregionen aufweisen, insbesondere im präfrontalen Kortex und in der Amygdala, die für Emotionsregulation, Impulskontrolle und Empathieverarbeitung zuständig sind. Zudem besteht eine moderate Erblichkeit für antisoziales
Verhalten, das bedeutet, dass die Eigenschaften zwar zum Teil, aber nicht ausschließlich durch Gene weitergegeben werden. Studien zeigen, dass speziell eine Kombination aus genetischer Veranlagung und belastender Umwelt, das Risiko für die Entstehung einer DPS stark erhöht.
Ein zentraler Risikofaktor ist eine gestörte frühkindliche Sozialisation. Dazu gehören:
→ Vernachlässigung durch Bezugspersonen
→ Psychische oder Physische Gewalt
→ Instabile Familienverhältnisse
→ Fehlende sichere Bindungen
Kinder, die wiederholt emotionale Zurückweisung erfahren oder kein stabiles Modell für Mitgefühl und Grenzsetzung erleben, haben ein erhöhtes Risiko, dissoziale Verhaltensmuster zu entwickeln. Besonders kritisch ist, wenn in der Kindheit bereits eine Störung des Sozialverhaltens (Conduct Disorder) diagnostiziert wird. Darunter versteht man ein auftretendes Muster von wiederholtem aggressivem oder regelverletzendem Verhalten, das deutlich von sozialen Normen abweicht. Dies gilt als direkter Risikofaktor für die spätere DPS.
Auffällig ist außerdem, dass Männer deutlich häufiger betroffen sind als Frauen. Gründe dafür können sowohl biologische Unterschiede als auch geschlechtsspezifische Sozialisationsmuster sein. Unter anderem wird aggressives Verhalten bei Jungen häufiger toleriert oder teils sogar gefördert, während es bei Mädchen eher abgelehnt wird.
Diagnose und Verlauf
Um die Diagnose einer dissozialen Persönlichkeitsstörung zu erhalten, müssen die bereits zu Beginn aufgeführten Kriterien nach dem ICD 10 dauerhaft erfüllt sein. Häufig zeigen sich Komorbiditäten, also das gleichzeitige Auftreten mehrerer Störungsbilder. Dazu zählen u. a. Substanzmissbrauch, die Aufmerksamkeitsdefizit-/Hyperaktivitätsstörung (ADHS), Depression sowie narzisstische oder borderline-Persönlichkeitszüge.
Die dissoziale Persönlichkeitsstörung beginnt in der Regel im Jugendalter und zeigt sich im frühen Erwachsenenalter besonders deutlich. Die Symptome können im mittleren Lebensalter teilweise abnehmen, etwa die Impulsivität oder kriminelle Handlungen. Dennoch bleiben Grundmuster, wie geringe Empathie oder manipulative Tendenzen oft bestehen. Ein positiver Verlauf ist möglich, aber selten ohne therapeutische Intervention und stabile Lebensbedingungen. Prognostisch ungünstig wirken sich frühe Delinquenz, Drogenmissbrauch und fehlende soziale Integration aus.
Psychopathie vs. Dissoziale Persönlichkeitsstörung – Was ist der Unterschied?
In der öffentlichen Wahrnehmung werden die Begriffe „Psychopathie“ und „dissoziale Persönlichkeitsstörung (DPS)“ oft gleichgesetzt. Beide Begriffe beschreiben Menschen mit gravierenden Defiziten in Empathie, Gewissen und sozialem Verhalten, doch fachlich handelt es sich um zwei nicht identische Konzepte, die sich zwar überschneiden, aber nicht gleichbedeutend sind.
Dissoziale Persönlichkeitsstörung | Psychopathie |
→ offizielle psychiatrische Diagnose → Sie basiert auf verhaltensbezogenen Kriterien • wiederholt kriminelles oder normverletzendes Verhalten, • Impulsivität, • Verantwortungslosigkeit, • fehlendes Schuldbewusstsein
| → kein offizieller Diagnosebegriff, sondern ein konzeptionelles Konstrukt (= abstrakte Idee, theoretische Vorstellung) → umfasst nicht nur antisoziales Verhalten, sondern auch spezifische interpersonelle Merkmale • oberflächlicher Charme • ausgeprägter Egozentrismus • pathologisches Lügen • emotionale Kälte • instrumentelle Manipulation Betroffene wirken oft sozial kompetent, obwohl sie eigentlich nur instrumentell handeln. |
Zwar erfüllen viele psychopathische Personen auch die Kriterien für eine DPS, umgekehrt gilt das jedoch nicht zwangsläufig. Eine Person kann eine DPS haben, ohne psychopathische Eigenschaften wie emotionale Kälte oder charmante Manipulation aufzuweisen. In Studien zeigt sich, dass nur etwa ein Drittel der Menschen mit DPS auch als psychopathisch eingestuft werden kann.
Die Unterscheidung ist vor allem im forensischen Bereich bedeutsam: Psychopathie gilt als besonders behandlungsresistent und ist ein starker Prädiktor für Rückfallrisiken. Gleichzeitig kann sie therapeutische Beziehungen massiv erschweren, da Betroffene häufig versuchen, Therapeut*innen zu täuschen oder zu manipulieren.
Therapie und Umgang mit Betroffenen
Schwierigkeiten in der Behandlung
Ein zentrales Problem ist die oft fehlende Krankheitseinsicht: Viele Betroffene nehmen ihr Verhalten nicht als problematisch wahr und sehen keinen Grund, daran etwas zu ändern. Häufig wird die Behandlung nicht freiwillig, sondern unter Druck begonnen, etwa durch gerichtliche Auflagen, Arbeitgeber oder Angehörige.
Hinzu kommen Merkmale wie:
• Manipulatives Verhalten gegenüber Therapeut*innen
• geringe Frustrationstoleranz
• hohe Komorbidität, etwa mit Sucht, ADHS oder Depression Diese Faktoren können den therapeutischen Prozess erheblich stören.
Welche Therapieansätze sind hilfreich?
Trotz der Schwierigkeiten gibt es strukturierte Methoden, die sich bewährt haben, vor allem im verhaltenstherapeutischen und forensisch-psychiatrischen Kontext:
• Kognitive Verhaltenstherapie (KVT): Fokus auf Denkfehler, Impulskontrolle, Selbstverantwortung
•Dialektisch-behaviorale Therapie (DBT): Modifizierte Ansätze z. B. für forensische oder impulsive
Persönlichkeitsstörungen
• Rückfallpräventionsprogramme: Besonders bei Gewalt- oder Sexualstraftaten
• Sozialtraining & Frustrationstoleranzübungen
• Motivationale Gesprächsführung (Motivational Interviewing): zur Stärkung der Eigenmotivation
Diese Verfahren zeigen zwar keine „Heilung“, können aber dazu beitragen, Rückfälle zu vermeiden, soziale Konflikte zu reduzieren und Beziehungen zu stabilisieren.
Umgang im sozialen Umfeld
Nicht nur Therapeut*innen, sondern auch Angehörige, Partner*innen, Kolleg*innen oder Betreuer*innen stehen vor der Frage: Wie gehe ich mit einer Person mit DPS um?
Wichtige Prinzipien sind:
• Klare Grenzen setzen und konsequent bleiben
• Verlässlichkeit & Struktur bieten
• Nicht auf emotionale Manipulation eingehen
• Sich selbst schützen und ernst nehmen
• Psychoedukation für das Umfeld nutzen
Angehörige sind häufig stark belastet, nicht nur emotional, sondern auch finanziell oder sozial. Unterstützung durch Fachstellen, Selbsthilfegruppen oder Beratung kann hier hilfreich sein.
Fazit
Die dissoziale Persönlichkeitsstörung ist ein komplexes und oft missverstandenes Störungsbild, das weitreichende Auswirkungen auf das Leben der Betroffenen, ihrer Angehörigen und der Gesellschaft hat. Wer unter DPS leidet, verletzt häufig soziale Normen, wirkt verantwortungslos, manipulativ oder gefühlskalt, doch diese Eigenschaften entstehen nicht einfach so. Hinter der Störung stehen meist mehrere Risikofaktoren, etwa instabile Bindungen, emotionale Vernachlässigung, Misshandlung oder genetische Veranlagungen. Bereits in der Kindheit zeigen sich häufig frühe Verhaltensauffälligkeiten, die oft nicht rechtzeitig erkannt oder behandelt werden. Die Entwicklung hin zu einer Persönlichkeitsstörung ist keine schlagartige Veränderung, sondern ein langsamer Prozess, der in der frühen Sozialisation wurzelt.
In der Öffentlichkeit wird DPS häufig mit Kriminalität oder „Psychopathie“ gleichgesetzt. Solche verkürzten Darstellungen fördern das Stigma, aber nicht das Verständnis. Zwar ist das Risiko für delinquentes Verhalten bei Menschen mit DPS erhöht, doch nicht alle sind gewalttätig oder straffällig. Viele Betroffene leben mit der Störung, ohne jemals im Strafregister zu erscheinen, leiden aber unter instabilen Beziehungen, innerer Leere oder sozialem Ausschluss.
Auch wenn die Behandlung von DPS als schwierig gilt, ist Veränderung möglich, vor allem durch frühe Intervention, strukturierte therapeutische Konzepte und ein stabiles soziales Umfeld. Die Vorstellung, dass Menschen mit DPS „nicht therapierbar“ oder „hoffnungslos“ seien, ist nicht nur fachlich falsch, sondern verhindert genau jene Unterstützung, die notwendig wäre.
DPS ist also nicht nur eine Herausforderung für Psychiatrie und Justiz. Sie betrifft uns als Gesellschaft: in Schulen, Beziehungen, Institutionen, und in unserer Haltung gegenüber Menschen, deren Verhalten wir nicht sofort nachvollziehen können. Es lohnt sich, genauer hinzuschauen, statt vorschnell zu urteilen.
Denn hinter auffälligem Verhalten steht oft ein Mensch, der nie gelernt hat, anders zu fühlen oder zu handeln, aber vielleicht bereit ist, es zu lernen!
Quellen
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Bildquelle: https://www.pexels.com/de-de/foto/treppe-stufen-stadt-fashion-7230919/
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