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Mensch vor Diagnose: Warum Sprache den Unterschied macht

  • Tina
  • 16. Apr.
  • 4 Min. Lesezeit

Aktualisiert: vor 2 Tagen



Menschen mit psychischen Erkrankungen leiden oft nicht nur unter den Symptomen ihrer Diagnose, sondern auch unter der Stigmatisierung, die viel zu oft damit einhergeht. Nicht umsonst wird auch von Stigma als „zweiter Krankheit“ gesprochen. Besonders unsere Sprache spielt dabei eine entscheidende Rolle: Sie kann Vorurteile verstärken oder abbauen. In diesem Artikel erfährst du, wie Stigmatisierung wirkt, welchen Einfluss Worte haben und wie du mit einfachen Änderungen eine stigmafreie Sprache verwenden kannst.


 

Wie funktioniert Stigma?

In der Sozialpsychologie werden drei relevante Komponenten rund um Stigmatisierung unterschieden: Stereotype, Vorurteile und Diskriminierung. Stereotype sind dabei verallgemeinernde und oft negative Annahmen über bestimmte Gruppen oder Personen. Werden diese Stereotype akzeptiert, entstehen Vorurteile, die mit emotionalen Reaktionen wie Angst oder Ablehnung einhergehen. Schließlich beeinflussen diese Vorurteile unser Verhalten – Diskriminierung ist die Folge. Man kann also sagen, dass Stereotype die kognitive, Vorurteile die affektiv-emotionale und Diskriminierung die behaviorale (auf das Verhalten bezogene) Komponente bilden.


Es ist gut belegt, dass Darstellungen in den Medien diese Mechanismen verstärken. Doch nicht nur große mediale Inszenierungen tragen zur Reproduktion von Stereotypen bei – auch unsere Alltagssprache hat einen entscheidenden Einfluss. Dazu gibt es auch psychologische Theorien: Der linguistische Relativismus besagt, dass Sprache unser Denken und unsere Wahrnehmung maßgeblich beeinflusst. Deshalb lohnt es sich, die eigenen Worte bewusst zu wählen, um Stigmatisierung entgegenzuwirken.


Folgen für Betroffene

Stigma wirkt auf zwei Ebenen: als öffentliches Stigma („public stigma“) und als Selbststigma. Öffentliches Stigma entsteht durch weit verbreitete Stereotype. Menschen mit psychischen Erkrankungen werden oft als gefährlich, schwach oder inkompetent abgestempelt. Diese Vorurteile rufen Ablehnung, Angst oder Wut hervor und führen zu diskriminierendem Verhalten wie sozialer Ausgrenzung oder verweigerter Unterstützung.


Doch Stigma bleibt nicht nur äußerlich – es kann verinnerlicht werden. Beim Selbststigma übernehmen Betroffene die negativen Annahmen über sich selbst. Das Ergebnis: geringes Selbstbewusstsein, Scham und sozialer Rückzug. Viele Menschen suchen aufgrund dieser inneren Barrieren keine Hilfe, was den Weg zur Genesung zusätzlich erschwert. Stigma ist also nicht nur ein gesellschaftliches Problem, sondern beeinflusst das Leben der Betroffenen direkt – oft mit schwerwiegenden Folgen.


Wie finden wir die richtigen Worte?

Die Art und Weise, wie wir über psychische Erkrankungen sprechen, beeinflusst also unsere Wahrnehmung und den Umgang mit Betroffenen. Es gibt zwei zentrale Ansätze, die den sprachlichen Umgang mit psychischen Erkrankungen bestimmen: die personenzentrierte „Person-First Language“ (PFL) und die diagnosezentrierte „Identity-First Language“ (IFL).


Bei der PFL steht – wie der Name schon sagt – die Person im Vordergrund, während die Erkrankung erst danach genannt wird, zum Beispiel „eine Person mit Depression“ statt „ein Depressiver“. Diese Formulierung soll verdeutlichen, dass Menschen nicht allein durch ihre Erkrankung definiert werden können, sondern dass diese nur ein Aspekt ihres Lebens ist. Zudem betont PFL die Behandelbarkeit psychischer Erkrankungen und soll eine Trennung von Mensch und Diagnose ermöglichen. Eine Studie von Granello & Gibbs (2016) zeigt, dass die Verwendung von PFL („Person mit psychischer Erkrankung“) der von IFL vorzuziehen ist, bei der die Erkrankung in den Vordergrund rückt („psychisch kranke Person“), da letztere mit geringeren Toleranzwerten Gegenüber Betroffenen verbunden ist.


Allerdings wird PFL nicht von allen Gruppen bevorzugt. Manche Menschen im Autismus-Spektrum beispielsweise bevorzugen bewusst die IFL, da sie ihre Diagnose als festen Bestandteil ihrer Identität betrachten. Während also PFL im Allgemeinen bei psychischen Erkrankungen zur Entstigmatisierung beitragen kann, ist es wichtig, die Präferenzen der jeweiligen Gruppen zu respektieren und Worte bewusst einzusetzen.


Weitere Tipps, wie man stigmafreie Sprache verwenden kann

Neben der Wahl zwischen PFL und IFL gibt es weitere Strategien, um eine respektvolle und stigmafreie Sprache im Umgang mit psychischen Erkrankungen zu verwenden. Hier sind zwei Tipps:


Verwende neutrale und wertfreie Sprache. So werden negative Assoziationen mit Schuld, Schwäche oder moralischer Verfehlung vermieden. Verwende zum Beispiel „Suizid“ anstatt der veralteten Begriffe „Selbstmord“ oder „Freitod“ oder benenne die Diagnose „Suchterkrankung“ anstatt Personen als „Säufer“ oder „Junkie“ zu beschreiben.


Verwende psychiatrische Begriffe nicht als Metaphern für andere Kontexte. Beschreibe zum Beispiel das Verhalten einer Person oder eine Situation nicht als „bipolar”, „psychotisch” oder „geisteskrank”, wenn du eigentlich „ungewöhnlich” oder „unerwartet” meinst. Diese Metaphern können Vorurteile verstärken und gleichzeitig die Ernsthaftigkeit psychischer Erkrankungen verharmlosen.


Fazit

Unsere Worte haben Macht – sie beeinflussen, wie psychische Erkrankungen und Betroffene wahrgenommen werden. Eine achtsame Sprache kann helfen, Vorurteile abzubauen und ein respektvolles, differenziertes Bild zu vermitteln. Wenn wir bewusst unsere Worte wählen, auf abwertende Metaphern verzichten und wertfrei formulieren, tragen wir zu einer unterstützenden und offenen Kommunikation bei. Oft machen schon kleine sprachliche Anpassungen einen großen Unterschied – für die Gesellschaft und vor allem für die Menschen, die mit einer psychischen Erkrankung leben.


Quellen

Aktionsbündnis Seelische Gesundheit. (2022). Leitfaden fairmedia: Empfehlungen für eine faire Medienberichterstattung über psychische Erkrankungen. Abgerufen am 2. April 2025 von https://www.seelischegesundheit.net/presse/fair-media/

American Psychological Association (2020). Bias-free language. In Publication manual of the American Psychological Association (7th ed., Chapter 5). APA. https://apastyle.apa.org/style-grammar-guidelines/bias-free-language/disability

Corrigan, P. W., & Watson, A. C. (2002). Understanding the impact of stigma on people with mental illness. World Psychiatry, 1(1), 16–20.

Deutsche Gesellschaft für Suizidprävention e.V. (o. J.). Medienportal der Deutschen Gesellschaft für Suizidprävention. Abgerufen am 2. April 2025 von https://www.suizidpraevention.de/medienportal

Granello, D. H., & Gibbs, T. A. (2016). The power of language and labels: "The mentally ill" versus "people with mental illnesses." Journal of Counseling & Development, 94(1), 31–40.

Rüsch, N., Angermeyer, M. C., & Corrigan, P. W. (2005). Mental illness stigma: Concepts, consequences and initiatives to reduce stigma. European Psychiatry, 20(8), 529–539.

Stigma-frei. (o. J.). Empfehlungen zur stigmafreien Berichterstattung: Sprache und Formulierung. https://www.stigma-frei.at/empfehlungen/stigmafreie-berichterstattung/sprache-und-formulierung/

Volkow, N. D., Gordon, J. A., & Koob, G. F. (2021). Choosing appropriate language to reduce the stigma around mental illness and substance use disorders. The American Journal of Psychiatry, 178(5), 383–386.

Bildquelle: https://pixabay.com/de/illustrations/karikatur-malen-fantasie-5280767/

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