top of page

Psychische Gesundheit im Leistungssport: Über Stigma, Druck und den Mut zum Wandel

  • Rico
  • 18. Juni
  • 5 Min. Lesezeit

Am 10. November 2009 nahm sich Fußballprofi Robert Enke das Leben. Er wird von einem Zug in der Nähe von Hannover erfasst und wurde nur 32 Jahre alt. Noch wenige Tage zuvor hatte er gegen den Hamburger SV das Tor gehütet und „funktioniert“. Kurze Zeit nach seinem Tod wird bekannt, dass er über Jahre hinweg an Depressionen litt. Aus Angst vor öffentlichen Reaktionen und möglichen Folgen für seine Profikarriere sprach er nur mit wenigen Menschen über seine Erkrankung und hatte bis zuletzt versucht weiter zu „funktionieren“, bis es nicht mehr ging.


Der Fall Enke steht heute wie kaum ein anderer stellvertretend für den psychischen Druck und das Stigma im Leistungssport. Besonders bemerkenswert ist, dass Robert Enkes Vater Psychotherapeut war. Dies macht deutlich, dass selbst in einem solchen familiären Umfeld das offene Sprechen über eine psychische Erkrankung im Leistungssport sehr schwerfallen kann. Und Robert Enke ist kein Einzelfall. Sebastian Deisler, einst als Jahunderttalent im deutschen Fußball gefeiert, beendete mit nur 27 Jahren seine Karriere. Er fühlte sich leer, erschöpft und dauerhaft überfordert. Der Skispringer Sven Hannawald litt an Burnout was in einen psychischen Zusammenbruch nach dem Gewinn der Vierschanzentournee mündete. Oder auch die Radrennfahrerin Hanka Kupfernagel erlebte große mentale Erschöpfung aufgrund des anhaltenden Erfolgsdrucks. Diese Beispiele machen deutlich, dass psychische Belastungen im Spitzensport keine Ausnahme sind. Und doch bleibt der offene Umgang damit für viele eine große Hürde.



Warum psychische Gesundheit im Leistungssport besonders stigmatisiert ist

Psychische Erkrankungen kommen im Leistungssport ähnlich häufig vor wie in der Allgemeinbevölkerung. Dennoch fällt es vielen Sportler:innen schwer, offen mit ihren Belastungen umzugehen oder Hilfe in Anspruch zu nehmen. Ein zentraler Grund dafür ist das anhaltende Stigma, das mit der Angst verbunden ist, als schwach, instabil oder nicht belastbar zu gelten.

 

Besonders im Hochleistungssport ist das Selbstbild oft stark geprägt von Eigenschaften wie mentaler Stärke, Durchhaltevermögen und Belastbarkeit. Wer es in den Profibereich geschafft hat, sollte demnach gelernt haben, Schmerz auszuhalten, Zweifel wegzuschieben und weiterzumachen. So wie einst Torwartlegende Oliver Kahn gesagt hatte: “Weiter, immer weiter“. Dies kann aber extreme Formen annehmen, wenn versucht wird weiterzumachen auch dann, wenn es eigentlich zu viel ist. Diese Denkart kann dazu führen, dass psychische Belastungen nicht ernst genommen oder gar als persönliches Versagen empfunden werden. Viele Leistungssportler:innen haben früh gelernt, sich über Leistung und Erfolg zu definieren. Eine mentale Krise wird dann nicht nur als temporäre Schwäche erlebt, sondern als Gefahr für die eigene Identität. Der Gedanke, öffentlich einzugestehen, dass es ihnen mental nicht gut geht, ist für viele kaum vorstellbar.

 

Auch innerhalb von Sportmannschaften kann es schwer sein, offen über psychische Probleme zu sprechen. Manche fürchten, ihren Platz zu verlieren oder im Konkurrenzkampf benachteiligt zu werden. Andere ziehen sich zurück, um sich zu schützen. In einer qualitativen Studie mit ehemaligen Hochschulsportler:innen wurde deutlich, dass viele aus Angst vor Ausgrenzung oder negativen Reaktionen soziale Kontakte einschränkten oder persönliche Themen ganz vermieden. Manche beschrieben, dass sie ein „charismatisches Schutzschild“ aufrecht hielten, um nicht angreifbar zu wirken.

 

Speziell bei männlichen Sportlern kann das Stigma von psychischen Erkrankungen besonders stark sein. Studien belegen, dass geschlechterspezifische Vorstellungen von Männlichkeit eine wichtige Rolle spielen. Nicht selten empfinden Männer das offene Sprechen über psychische Belastungen als Widerspruch zu einem starken Selbstbild. Der offene Umgang mit Gefühlen wird häufig mit dem Verlust von Ansehen oder Kontrolle gleichgesetzt. Dies kann dazu führen, dass psychisches Leiden ausgeblendet oder verdrängt wird. Tatsächlich liegt die Inanspruchnahme psychischer Unterstützung bei Männern rund 30 Prozent unter der von Frauen. In einer repräsentativen Studie gaben 8,1 Prozent der Männer, aber 11,2 Prozent der Frauen an, im vergangenen Jahr psychotherapeutische oder psychiatrische Angebote genutzt zu haben. Bei Menschen mit einer Depression ist dieser Unterschied noch deutlicher. Hier beginnen Männer nur halb so häufig wie Frauen eine Psychotherapie. Ein großes Problem sind starre Männlichkeitsideale, in denen Schwäche keinen Platz hat und emotionale Kontrolle sowie Unabhängigkeit als Zeichen von Stärke gelten, was im Leistungssport häufig verstärkt wird. Hier muss ein Paradigmenwechsel her und zwar, dass das Eingeständnis einer psychischen Belastung ein Ausdruck von Mut und Stärke ist.


Wie ein offener Umgang mit psychischer Gesundheit im Leistungssport gelingen kann

In den vergangenen Jahren gab es erste Schritte in Richtung mehr Offenheit. Immer mehr ehemalige und aktive Sportler:innen sprechen öffentlich über psychische Belastungen, Burnout oder Depressionen. Organisationen wie die Robert-Enke-Stiftung setzen sich aktiv für mehr Aufklärung und Prävention im Sportbereich ein. Sie bieten Informationsmaterialien, Schulungen und Unterstützungsangebote für Vereine, Trainer:innen sowie Angehörige. Solche Initiativen tragen dazu bei, das Thema psychische Gesundheit präsenter zu machen und ein besseres Gespür für psychische Warnsignale im sportlichen Umfeld zu fördern.

 

Auch innerhalb von Vereinen und Teams braucht es Veränderungen. Gerade Trainer:innen sind gefragt, eine Vorbildrolle einzunehmen und eine offenen Umgang mit psychischer Belastung vorzuleben. Wer psychisches Wohlbefinden nicht als „Privatsache“ abtut, sondern aktiv thematisiert, sendet ein wichtiges Signal: Du musst nicht allein durch diese Phase gehen. Auf diese Weise kann die Hemmschwelle zum Aufsuchen von professioneller Hilfe verringert werden. Ein eindrückliches Beispiel für gelebte Vorbildfunktion zeigte Ralf Rangnick im Jahr 2011. Der damalige Trainer von Schalke 04 legte sein Amt öffentlich nieder, da er an Burnout litt. Er sprach offen über Schlafprobleme, Appetitlosigkeit und seine Entscheidung, sich professionelle Hilfe zu holen. Sportpsychologin Marion Sulprizio bezeichnete diesen Schritt als wichtiges Signal für die Akzeptanz von psychischen Erkrankungen im Spitzensport.

 

Darüber hinaus können auch Eltern und enge Bezugspersonen junger Leistungssportler:innen eine wichtige Schutzfunktion übernehmen. Gerade im Nachwuchsbereich ist die Wahrscheinlichkeit hoch, dass sich hohe Ansprüche früh verfestigen. Wer schon als Kind lernt, dass Leistung nicht über allem steht, sondern dass auch Erholung, Unsicherheit oder Schwäche Platz haben dürfen, entwickelt oft ein gesünderes Selbstbild. Junge Sportler:innen müssen wissen, dass es in Ordnung ist, wenn sie sich nicht stets stark fühlen und, dass der Mut nach Hilfe zu fragen Respekt verdient. Dies sind wichtige Ressourcen, die die Resilienz dieser jungen Menschen früh aufbaut und fördert.


Die Zeit zum Wandel ist jetzt!

Als sich Robert Enke das Leben nahm, war die Erschütterung groß. Viele fragten sich, wie es so weit kommen konnte. Seine Geschichte hat zwar vieles angestoßen und dazu geführt, dass das Thema psychische Gesundheit öffentlicher im deutschen Sport diskutiert wird. Und doch bleibt viel zu tun. Stigma, Scham, überhöhte Leistungsnormen und starre Ideale wirken noch immer sehr hartnäckig. Wir müssen bereit sein hinzuschauen, zuzuhören und anzuerkennen, dass mentale Gesundheit im Sport genauso wichtig ist wie körperliche. Nicht irgendwann, sondern jetzt.

 

Für Robert Enke kam dieser Wandel leider zu spät. Für viele andere kann er den entscheidenden Unterschied machen.


Quellen

Bauman, N. J. (2015). The stigma of mental health in athletes: are mental toughness and mental health seen as contradictory in elite sport? British Journal of Sports Medicine, 50(3), 135–136. https://doi.org/10.1136/bjsports-2015-095570

Eggenberger, L., Fordschmid, C., Ludwig, C., Weber, S., Grub, J., Komlenac, N. & Walther, A. (2021). Men’s Psychotherapy Use, Male Role Norms, and Male-Typical Depression Symptoms: Examining 716 Men and Women Experiencing Psychological Distress. Behavioral Sciences, 11(6), 83. https://doi.org/10.3390/bs11060083

Goos, M. (2014). Burnout im Sport. In: Hildebrandt, A. (Hrsg.) CSR und Sportmanagement. Management-Reihe Corporate Social Responsibility. Springer Gabler, Berlin, Heidelberg. https://doi.org/10.1007/978-3-642-54884-0_20

Nam, S. K., Chu, H. J., Lee, M. K., Lee, J. H., Kim, N., & Lee, S. M. (2010). A Meta-analysis of Gender Differences in Attitudes Toward Seeking Professional Psychological Help. Journal of American College Health, 59(2), 110–116. https://doi.org/10.1080/07448481.2010.483714

Petersen, B., Schinke, R. J., Coholic, D., Larivière, M. & Giffin, C. E. (2024). The social effects of mental ill-health stigma in sport. Sport, Exercise and Performance Psychology, 13(3), 223–239. https://doi.org/10.1037/spy0000351

Rao, A. L., & Hong, E. (2020). Overcoming the Stigma of Mental Health in Sport. In: Hong, E., & Rao, A. (Hrsg.) Mental Health in the Athlete. Springer, Cham. https://doi.org/10.1007/978-3-030-44754-0_1

Staiger, T., Stiawa, M., Mueller-Stierlin, A. S., Kilian, R., Beschoner, P., Gündel, H., Becker, T., Frasch, K., Panzirsch, M., Schmauß, M. & Krumm, S. (2020). Masculinity and Help-Seeking Among Men With Depression: A Qualitative Study.Frontiers in Psychiatry, 11. https://doi.org/10.3389/fpsyt.2020.599039

https://de.wikipedia.org/wiki/Robert_Enke

https://www.aerztezeitung.de/Panorama/Burn-out-Gestaendnis-macht-Rangnick-zum-Vorbild-262001.html

https://www.sport1.de/news/fussball/bundesliga/2024/01/fc-bayern-sebastian-deisler-wird-44-er-wollte-nur-spielen#

https://www.stern.de/sport/sportwelt/sven-hannawald-ueber-seine-burnout-diagnose---eine-totale-erloesung--32829186.html#:~:text=2004%20wurde%20bei%20ihm%20zudem,ersten%20Anzeichen%20der%20Erkrankung%20auf.

https://www.tour-magazin.de/news/hanka-kupfernagel/

Bildquelle: https://www.pexels.com/de-de/foto/bank-sitzbank-menschen-seil-6389085/

Comments


bottom of page